© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/11 07. Januar 2011

Im Zug nach nirgendwo
Blick voraus: Auch 2011 werden Wahlen nichts ändern, sonst wären sie verboten
Thorsten Hinz

In einem Aphorismus machte der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer sich über die Kassandren lustig, die ständig ihr „Fünf-Minuten-vor-zwölf“ verkünden und dabei übersehen, daß es in Wahrheit bereits dreiviertel drei ist! In diesem Sinne wird das angebrochene Jahr 2011 als das „Schicksalsjahr“ für die  schwarz-gelbe Koalition beschworen, weil ihr sieben riskante Landtagswahlen bevorstehen, die womöglich das Ende der FDP besiegeln. Damit wird zugleich suggeriert, daß die politischen Entscheidungen, vor denen das Land steht, in der Hand des Wählers liegen. Doch der wohnt nur einer vordergründigen Schmierenkomödie bei, die dazu dient, die hintergründige Dramatik zu verschleiern, solange es nur geht.

Der Bürger befindet sich in einer seltsamen Lage. Er kann gar nicht anders, als die amtierende Regierung zum Teufel zu wünschen: wegen erwiesener Unfähigkeit und dem bezeugten Unwillen, die Interessen Deutschlands zu vertreten. Jedoch muß er sich diesen Wunsch verkneifen, weil die Alternative – egal in welcher Farbkombination – wohl noch schlimmer wäre als das real existierende Elend, das uns zur Zeit regiert. In den wichtigsten Fragen: Verschuldungs- und Währungskrise; Abbau von Volkssouveränität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit; wucherndem Sozialstaat; Steuer- und Abgabenlast; Demographie und Ausländerpolitik sind die etablierten Parteien sich im Prinzip einig und ihre Differenzen nur marginal.

Weil die falschen Weichenstellungen nicht thematisiert werden und nicht zur Entscheidung anstehen, geht es bloß um das Tempo, mit dem der Zug gegen die Wand fährt. Man kann sich aussuchen, wer die Reise gemütlicher gestaltet: Schwarz-Gelb oder Rot-Rot-Grün. Die einen werden bei der Beschneidung der Eigentums- und Freiheitsrechte ein bißchen mehr Vorsicht walten lassen, die anderen werden sich verbal mit der Bankenwelt anlegen und dafür um so entschiedener ihre Hand auf die Einkommen und Ersparnisse legen, um sie inner- und außerhalb Deutschlands umzuverteilen. Die Ergebnisse werden sich ähneln.

Die Schicksalhaftigkeit der Situation liegt also nicht darin, sich „fünf Minuten vor zwölf“ zwischen komplizierten politischen Alternativen entscheiden zu müssen, sondern in der Alternativlosigkeit, zu der die zum Selbstzweck gewordenen politischen Stukturen den Bürger verurteilen. Ein Bundestag, der die Lebensfragen des Landes nicht offen diskutiert, macht sich funktions- und letztlich sinnlos. Ein anderer Konstruktionsfehler des Systems äußert sich aktuell darin, daß die Zusammensetzung von Landesregierungen und -parlamenten über die Bundespolitik entscheidet. Als Ausgleich für ihre schwindende finanzielle Handlungsfähigkeit haben die Länder im Bund eine Blockadekompetenz entwickelt, die ihnen nach dem Geist des Grundgesetzes gar nicht zukommt. So ist der Föderalismus zum Garanten des rasenden Stillstands und zur Einnahmequelle für eine politische Klasse degeneriert, deren Hauptzweck die Selbstversorgung ist. Der Bürger wird unterdessen auf Spielwiesen wie „Stuttgart 21“ verwiesen, wo er seine Wut herauslassen und sich der Illusion hingeben darf, daß es auf sein Wort und sein Engagement ankomme.

Die FDP ist ein bewährter Teil dieses Politikbetriebs. Nichts hat sie unternommen gegen die Zwangsabgabe, die ab 2013 von jedem Bürger für den öffentlich-rechtlichen – in Wahrheit links-vormundschaftlichen – Rundfunk erhoben wird. Nichts tut sie für die Abschaffung des Volksverhetzungsparagraphen 130, der sich zum Ausgangspunkt eines politischen Gesinnungsstrafrechts eignet. Generalsekretär Christian Lindner verbreitet allen Ernstes, die Quelle gesellschaftspolitischer Probleme liege in der öffentlichen Dominanz des Christentums, und fordert einen strikten Laizismus des Staates. Zur gleichen Zeit üben bestimmte ethnische Gruppen, deren Wortführer kulturelle, religiöse und  politische Bestrebungen miteinander verbinden, erfolgreich Druck auf staatliche Institutionen aus und wird in Kreißsälen, auf Schulhöfen und in öffentlichen Verkehrsmitteln die biopolitische Machtfrage gestellt.

Trotz ihres Versagens würde ein Verschwinden der FDP das politische System nicht revolutionieren, sondern zusätzlich betonieren. Denn sie ist die einzige Partei, die wenigstens theoretisch außerhalb des bundesdeutschen Konsenses der Gleichmacherei und Umverteilung steht. Durch  ihr Schwadronieren über „spätrömische Dekadenz“ und eine kleinliche Klientelpolitik haben die Liberalen sich freilich ihrer Handlungsmöglichkeiten beraubt und gezeigt, daß sie handwerklich überfordert sind. Andererseits würde ihr Ausscheiden ein Parteiensystem hinterlassen, in dem sich ausschließlich sozialdemokratisch orientierte Parteien tummeln.

Denn eine relevante rechte oder konservative Ergänzung, die ein deutsches Eigeninteresse formuliert, die nach dem Sinn der Maastricht-Verträge, des Euro und nach der angebahnten Transferunion fragt, die auf rechtlichen und sozialtechnischen Unterschieden zwischen In- und Ausländern besteht, hat in diesem System noch immer keine Chance. Es wird auf absehbare Zeit bei einflußlosen Klein- und Kleinstparteien bleiben, die die Presse und – mehr oder weniger offen – den Verfassungsschutz gegen sich haben.

Man täusche sich auch nicht über die Reserven, über die das politische System oder die von ihm bevormundeten Bürger verfügen. Sie reichen aus, um schnelle Offenbarungseide zu vermeiden. Konservative sollten daher nicht zu viele Erwartungen an die bevorstehenden Wahlen knüpfen. Bevor die verborgene Dramatik in den Vordergrund tritt, ehe die Wut zur Einsicht wird und aus dieser politische Entschlußkraft erwächst, wird das Jahr 2011 zu Ende gegangen sein.

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