© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  01/10 01. Januar 2010

Eine geschichtspolitische Zäsur
Höchste Zeit für eine kritische Betrachtung: 2010 jährt sich Richard von Weizsäckers Rede zum Ende des Zweiten Weltkriegs zum 25. Mal
Thorsten Hinz

Die Rede, die Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag hielt, ist zu einem Schlüsseldokument nicht nur seiner Präsidentschaft, sondern der Bundesrepublik überhaupt geworden. Sie formulierte und prägte das bis heute gültige Politik- und Geschichtsverständnis, die beide in einer symbiotischen Beziehung zueinander stehen. Diese Symbiose ist ungesund, weil der Topos „Deutsche Geschichte“ sich im allgemeinen Verständnis auf die Zeit von 1933 bis 1945 beschränkt. Was also war es, das Richard von Weizsäcker Deutschland und der Welt mitzuteilen hatte?

Eine ungesunde Symbiose von Politik- und Geschichtsbild

Erstens: Die bedingungslose Kapitulation am 8. Mai 1945 habe die „Befreiung“ Deutschlands markiert. In dieser Absolutheit hieß das nichts anderes, als daß die Deutschen sich mit der „debellatio“, also der vollständigen Vernichtung ihrer staatlichen Existenz und dem Ende ihres Landes als politisches Subjekt, als der ihnen gemäßen Freiheitsvariante abfinden sollten. Weizsäcker begründete das mit einer Mischung aus Geschichtsmetaphysik und moralischer Erpressung. Der Zweite Weltkrieg ging demnach – zweitens – allein „von Deutschland aus (...). Es war Hitler, der zur Gewalt griff. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bleibt mit dem deutschen Namen verbunden.“

Die Deutschen waren die alleinigen Verursacher dieser Situation und hatten sie deshalb anzunehmen. Ganz vergessen war, was im Nachlaß seines Vaters, publiziert in den umfangreichen „Weizsäcker-Papieren“, und in dessen „Erinnerungen“ nachzulesen ist. Ernst von Weizsäcker, von 1938 bis 1943 Staatssekretär im Auswärtigen Amt, schrieb darin unter anderem vom „berechtigten Haß gegen Polen“ wegen des Terrors gegen Volksdeutsche. In der gereizten Atmosphäre vor dem 1. September 1939 hätten „diese Tatsachen schwerer“ gewogen als alles andere.

Ein drittes Element war der Holocaust. Hitler, behauptete Weizsäcker, hätte seinen abgrundtiefen Judenhaß nie vor der Öffentlichkeit verschwiegen und das „ganze Volk zum Werkzeug dieses Hasses“ gemacht. Zwar beschwichtigte er, Schuld sei „nicht kollektiv, sondern persönlich“, doch gleich darauf nahm er die Einschränkung wieder zurück: „Wir alle, ob schuldig oder nicht, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle (...) sind für sie in Haftung genommen.“ Das galt ausdrücklich auch für die Nachgeborenen.

Eine Kollektivhaftung also, die selbst künftige Generationen zwang, politisch, moralisch, wirtschaftlich, rechtlich für etwas zu büßen, was sie gar nicht zu verantworten haben – und zwar in einer Endlosspirale. Weizsäcker begründet das damit, daß „wir (...) als Menschen Versöhnung“ suchen. „Das jüdische Volk erinnert sich und wird sich immer erinnern.“ Wollten die Deutschen vergessen, würden sie nicht nur „unmenschlich“ handeln, sie würden auch den Glauben der überlebenden Juden verletzen und „den Ansatz zur Versöhnung zerstören“.

Weizsäcker dekretierte also, die Deutschen hätten ihre Identität einer fremden zu unterwerfen, sich mit ihrer eigenen Diskriminierung einverstanden zu erklären und die staatliche „debellatio“ geistig-moralisch nachzuvollziehen. Angela Merkels kühne Aussage, Israels Sicherheit sei Teil der deutschen Staatsräson, wurde bereits, umwölkt von metaphysischen Nebelschwaden, durch Weizsäcker vorweggenommen.

Ästhetisierung einer gesellschaftlichen Heuchelei

Die Ansprache, so einer seiner zahlreichen Biographen und der allgemeine Tenor bis heute, sei eine geschichtspolitische Zäsur „gegenüber jahrzehntelanger Unsicherheit der Bonner Politik bei der Einschätzung der ‘Stunde Null’“ gewesen. Weizsäcker habe damit eine „herausragende Souveränität“ bewiesen, weil er „sowohl der Historisierung des Nationalsozialismus als auch der damit verbundenen Schuldminderung, Schuldabwälzung oder gar Schuldverdrängung entgegentrat“. Formal gleiche sie „dem kunstvollen Muster einer textilen Handarbeit“, sie sei „ausgewogen, harmonisch“, aus ihr gewinne man „den Gesamteindruck einer für unsere Gegenwart gültigen moralischen ‘Summa’. Besser als alles Verdrängen hilft sie, mit der Vergangenheit, dem Nicht-ungeschehen-zu-Machenden, in Eintracht zu leben.“ Weizsäcker gab sich im Rückblick bescheiden: „Es waren nicht eigentlich neue Einsichten, die ich vorzutragen hatte.“ In der Tat: Die Rede lag exakt auf der Linie der Vergangenheitsbewältigung, die 1963 mit dem Auschwitz-Prozeß ihren Durchbruch erfuhr und seit der 68er Studentenrevolte die gesellschaftspolitischen Diskussionen dominierte. Er fügte hinzu, die Rede zum 8. Mai sei „die politischste und zugleich persönlichste (seiner) Amtszeit“ gewesen.

Der persönliche Anteil liegt in der Steigerung und Ästhetisierung einer gesamtgesellschaftlichen Heuchelei. Sigmund Freud hätte seine helle Freude gehabt an Weizsäckers rhetorischem Schwulst: Er forderte seine Zuhörer immer wieder auf, „der Wahrheit ins Auge zu sehen“, an anderer Stelle: „eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, daß es zu einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit.“ Später: Die Älteren schuldeten den Jüngeren „Aufrichtigkeit“, damit sie sich auf „die geschichtliche Wahrheit“ einlassen können, und zwar „nüchtern“ und „ohne Einseitigkeit“ und moralische Überheblichkeit“. Zum Schluß: „Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge.“ Die Rede ist eifernd und bigott, ein Akt permanenter Überredung und Selbstüberredung. In Büchners „Dantons Tod“ sagt der Titelheld zu seinem Rivalen Robespierre: „Ich würde mich schämen, dreißig Jahre lang mit der nämlichen Moralphysiognomie zwischen Himmel und Erde herumzulaufen, bloß um des elenden Vergnügens willen, andere schlechter zu finden als mich. – Ist denn nichts in dir, was dir nicht manchmal ganz leise, heimlich sagte: du lügst, du lügst?“

Eifernd und bigott, ein Akt permanenter Überredung

Zu den geistesgeschichtlichen Quellen der Rede zählen Karl Jaspers „Schuldfrage“ (1946), vor allem aber eine Schrift des mit der Weizsäcker-Familie gut bekannten Schweizer Theologen Karl Barth, die 1945 unter dem Titel „Die Gesundung des deutschen Volkes. Ein Freundeswort von draußen“ in Stuttgart erschien.

Richard von Weizsäcker hatte in seiner Rede gesagt: „Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“ Er unterschlug, daß Hitlers Machtergreifung eine Vorgeschichte hat, deren Anfang auf den Vertrag von Versailles datiert. Die Formulierung knüpft unmittelbar an Karl Barth an, der für entscheidend hielt, ob „der 30. Januar 1933 zum Schicksalstag der deutschen Geschichte (wird), zu dem Tag, der eine Schuld begründen oder nicht begründen kann“. Er bejahte die Frage, womit es auch „zulässig (wurde), darüber nachzudenken, ob wirklich ein gerader Weg von früheren Ereignissen der deutschen oder preußischen Geschichte zu diesem 30. Januar geführt hat“. Auch das stand für ihn fest. Deshalb, so Barth weiter, und um die Deutschen zu einem „freien Volk“, um sie „politisch vernünftig, gesund und lebenstüchtig“ zu machen, mußte man ihnen verwehren, „das alte, das bisherige Deutschland zu rechtfertigen und zu entschuldigen und unter irgendeinem Titel neu aufzubauen. Je gründlicher es abgebaut werden wird, um so besser vor allem für sie selber.“

Barth rechnete mit geistigen Ausweich- und Fluchtbewegungen, zu denen die Deutschen aufgrund ihres geschichtsphilosophischen und religiösen Tiefsinns generell neigten und die sie zu dem Schluß führen könnten, „daß eine besondere deutsche Buße offenbar nicht nötig und durchaus nicht angebracht sei“. Dann dürfe man „keine Sentimentalitäten“ walten lassen, allen rückwärtigen Bestrebungen müsse man „geradezu eisenhart begegnen“. Es sollte den Deutschen auch verwehrt sein, die „außerordentliche Form der Abwehr“ der deutschen Weltbedrohung durch die Flächenbombardements als „Mord“ zu bezeichnen und „mit Oradour und Auschwitz in eine Linie zu rücken“. Gleiches galt für „Racheakte“ an Deutschen, die Barth „im Osten und (...) vielleicht da und dort auch im Westen (...) nicht für ausgeschlossen hielt“.

Die Rede verschaffte ihm internationales Ansehen

Barths Schrift ist ein sadistischer Text, der Autor weidet sich an der Wehrlosigkeit des Objekts. Aus allen Sätzen quillt sein Behagen, ein renitentes Mündel in die absolute Verfügungsgewalt zu bekommen: „Man muß sie (die Deutschen – Th. H.) wohl sehr lieb haben, um sich nun auch dieser Aufgabe nicht zu entziehen und um sie dann auch recht an die Hand zu nehmen.“ Die zwangsweise Gehirnwäsche pries er als christliches Liebeswerk. In milderer Form ist dieser Tonfall auch in der Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) von 1965 nachweisbar, an der Weizsäcker ebenfalls mitgearbeitet hatte.

Warum ließ Richard von Weizsäcker sich zu einer Rede herab, die so vieles ausblendete und so vielem widersprach, was er von Haus aus besser als andere wissen mußte? Immerhin entstammt er einer Familie, die seit mehr als zweihundert Jahren zur deutschen Leistungselite zählt, die Theologen, Ministerpräsidenten, Wissenschaftler hervorgebracht hat. Die Gründe dafür liegen vor allem im Privaten beziehungsweise im Familiären, wobei dieses Familiäre ein deutsches Paradigma darstellt.

An dieser Stelle dazu nur soviel: Die Rede vom 8. Mai 1985 verschaffte ihm international höchstes Ansehen und einen Freibrief. Als er 1987 zu seinem Staatsbesuch in den USA weilte, versuchte der bekannte Rechtsgelehrte und Publizist Alan Dershowitz, unter Hinweis auf Weizsäckers Vater, „Adolf Hitlers Spitzendiplomaten“, eine Kampagne gegen ihn loszutreten. Das traurige Schicksal des österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim, der wegen seiner Zeit in der Wehrmacht haltlosen Anfeindungen ausgesetzt war, hatte gezeigt, wohin solche Angriffe führen konnten. Richard von Weizsäcker dagegen hatte Glück. Eine einflußreiche Koalition US-amerikanischer Unterstützer befand, Weizsäcker sei ein „guter Mann“. Fragt sich nur, für wen!

 

Richard von Weizsäcker: Geboren am 15. April 1920 in Stuttgart als Sohn des Diplomaten Ernst Freiherr von Weizsäcker. 1939–1945: Hauptmann der Reserve in einem Infanterieregiment. 1945–1950: Studium der Rechtswissenschaften und Geschichte 1948/49: Hilfsverteidiger seines Vaters bei den Nürnberger Prozessen. 1954: Eintritt in die CDU. 1969–1981: Mitglied des Deutschen Bundestags. 1974: Erfolglose Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten. 1981–1984: Regierender Bürgermeister von Berlin. 1984–1994: Sechster Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. (Quelle: www.hdg.de)

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