© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/09 16. Oktober 2009

Popularisierung des Schreckens
Avraham Burg geißelt das Holocaust-Gedenken als theologische Stütze moderner jüdischer Identität
von Günther Deschner

Israel müsse endlich Schluß machen mit seiner „Fixierung auf den Holocaust“. Israel habe eine Holocaust-„Industrie“ entwickelt, die das Land wie in einem „Ghetto“ gefangen halte und die zum Verlust von Moral und Werten des traditionellen Judentums geführt habe. Der „Holocaustgedenktag“ müsse gestrichen oder in einen Tag der Menschenrechte umgewidmet werden. Die „israelische Opfer-Paranoia“ müsse überwunden werden. „Hitler ist nicht mehr!“ Als die hebräische Originalausgabe „Sieg über Hitler“ vor zwei Jahren in Israel erschien, wurde das, was der 54jährige Geschäftsmann und Ex-Politiker Avraham Burg als kritische Liebeserklärung an Israel geschrieben hatte, vom zionistischen Establishment als publizistischer Sprengsatz empfunden, es fühlte sich bis ins Mark getroffen und provoziert. Der Autor bekam das Etikett eines enfant terrible der israelischen Publizistik verpaßt.

Sein Buch und der öffentliche Streit darüber machten das Unbehagen an der geistig-politischen Verfaßtheit sichtbar, das Israels Selbstsicht seit langem auf die Probe stellt. Zwar ist innerisraelische Kritik an Mißständen in Israel und in den beherrschten Palästinensergebieten gang und gäbe. Doch während man etwa den Historiker Tom Segev oder Publizisten wie Uri Avnery als Außenseiter abtun konnte, ist das bei Avraham Burg nicht so einfach, denn er kommt aus dem Gründungs-Establishment des Judenstaats und hat ihm selbst an herausragender Stelle gedient. Sein Vater Josef Burg, aus Dresden stammender Rabbiner, hatte im NS-Staat mitgeholfen, die Auswanderung von Juden zu organisieren, bis er 1939 selbst nach Palästina ging. Er gehörte zum Kreis der Staatsgründer und hatte jahrzehntelang Ministerämter inne.

Der 1955 in Israel geborene Avraham wuchs in Jerusalem, im Stadtteil Rehavia auf, das er „Kleindeutschland“ nennt, eine Insel der deutschen „Jeckes“, die ihn Martin Buber und andere Geistesgrößen auf der Straße treffen ließ. Später diente er in einer Fallschirmjägereinheit – ein Sprungbrett für politische Karrieren in Israel. Im Gegensatz zu seinem Vater, der gerade Innenminister war, lehnte er den Libanonkrieg von 1982 ab, engagierte sich bei „Peace Now“. Eine Bilderbuchkarriere schloß sich an: Er wurde Berater von Schimon Peres, Abgeordneter und Sprecher der Knesset. Einige Jahre leitete er die „Jewish Agency“, führte für sie die Entschädigungsverhandlungen mit Schweizer Banken.

Für Burg ist der Holocaust zu einer „theologischen Stütze der modernen jüdischen Identität“ pervertiert. Die „Popularisierung des Schreckens“ gehe weniger auf die tatsächlich Überlebenden zurück; vielmehr seien politische Interessen und paranoide Ängste dafür verantwortlich, daß Israel in ein „Auschwitz-Land“ verwandelt worden sei. Mit seinen Gedenktagen und ideologischen Umformungen sei der Holocaust so etwas „wie das Ozonloch geworden: nicht zu sehen, aber immer präsent“. Faktenreich, bildhaft und manchmal ein wenig polemisch zeichnet Burg den Prozeß der Umwandlung von einer zukunftssicheren und selbstbewußten „Israeliuth“ im Land verwurzelter Staatsbürger hin zu einem Jüdischsein, das von Traumatisierungen geprägt ist. „Wir haben uns verändert, ohne es zu merken.“

Burg ist der Meinung, daß die israelische Gesellschaft zu militaristisch ausgerichtet sei und somit radikal mit der jüdischen Tradition der Weltoffenheit und Toleranz breche. Sein schwerster Vorwurf lautet, das heutige Israel sei „zunehmend faschistisch und imperialistisch geworden“, und die Kehrseite der Fixierung auf die Shoa sei der wachsende Araberhaß. Anschaulich illustriert er seine These, das Beharren auf der Begründung der Staatsidee Israels durch den Holocaust und der „Mythos einer permanenten jüdischen Leidensgeschichte“ verhinderten, daß Israel sich aus der politischen Sackgasse befreien könne, in der es stecke. Burg nimmt sich heraus, sogar von einer israelischen „Opfer-Paranoia“ zu sprechen. Bezugspunkte für die eingeforderte Umorientierung sieht er in der Geistesgeschichte des Judentums selbst, im Anknüpfen an die humanistischen und universellen Werte, wie sie das europäische und speziell das deutsche Judentum entwickelt hat. Erst damit wäre Hitler „endgültig besiegt“.Auch vor anderen provokanten Fragen, vor allem, was den Umgang mit den Palästinensern betrifft, schreckt er nicht zurück: „Ist es ein Wunder, daß niemand mehr unser Freund sein will, wenn wir Enteignungen, ungerechte Verfahren an Militärgerichten, Mißhandlungen und Nahrungsmittelblockaden praktizieren – und arabische Menschenleben verachten?“

Jetzt ist Burgs brisante Publikation unter dem Titel „Hitler besiegen“ auch auf deutsch erschienen. Für den deutschen Leser sind nicht nur Einblicke in eine hier kaum bekannte innerisraelische Debatte interessant, die das argumentative und geistige Niveau der politisch-korrekten und offiziösen deutschen Einlassungen über Israel mit jedem Satz überbietet. Burg kommt es darauf an zu verdeutlichen, wie relevant diese Debatte auch für Deutschland sein kann. Vertraut mit der deutschen Geistesgeschichte, mit Glanz und Pathologie der deutsch-jüdischen Symbiose, mit Heinrich Heines „Doppelgänger, du bleicher Geselle“, will Burg mit seiner streitbaren Argumentation den verschlungenen Knoten freilegen, der auch noch zwei Generationen nach dem Ende des Dritten Reiches Juden und Deutsche  aneinanderbindet.

Sein Beitrag zu einer schmerzhaften israelischen „Schlußstrichdebatte“ sei auch für Deutschland nicht ohne Bedeutung: „In meinen Augen sind Israel und Deutschland zwei Nachbarnationen am Ufer eines Meeres gemeinsamer geschichtlicher Erfahrungen. Sie sind sehr unterschiedlich, aber für immer Nachbarn. Solange Israel sich in der Ecke der Abschottung befindet und sich selbst eingräbt, wird auch Deutschland dorthin gezogen sein. Aber an jenem Tage, wenn wir aus Auschwitz ausziehen und den neuen Staat Israel errichten, werden wir verpflichtet sein, auch Deutschland aus unserem Gefängnis freizulassen.“

Avraham Burg: Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muß. Campus Verlag, Frankfurt/Main 2009, gebunden, 280 Seiten, 22,90 Euro 

Foto: Yad Vaschem, „Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des Staates Israel im Holocaust“: Wie das Ozonloch

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