© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/09 27. Februar 2009

Pragmatismen des Totalitären
Günter Fippel legt eine Arbeit über das nach 1945 von den Sowjets weiterbetriebene Konzentrationslager Sachsenhausen vor
Werner H. Krause

Es hätte nicht viel gefehlt, und nach Kriegsende wäre es in dem von den Nationalsozialisten errichteten KZ Sachsenhausen bei Oranienburg zu einer makabren Begegnung gekommen. Bei Räumung des Lagers durch die Wachmannschaften vermochte ein Teil der Häftlinge, der nur noch aus menschlichen Wracks bestand, diesem Befehl nicht Folge zu leisten. Die SS-Leute, darauf bedacht, nur nicht den Russen in die Hände zu fallen, ließen die Dahindämmernden auf ihren Pritschen zurück.

Als im Juli 1945 wiederum Häftlinge in dem KZ eintrafen, diesmal von sowjetischen Wachmannschaften eskortiert, waren die letzten NS-Opfer gerade in Krankenanstalten verlegt worden. Manche Historiker haben der früheren Sow­jetunion puren Zynismus unterstellt, weil sie sich der einstigen KZ des NS-Regimes – auch Buchenwald gehörte dazu – erneut zur Einkerkerung ungezählter Menschen bedienten.

Günter Fippel, Autor eines dieser Tage im Leipziger Universitätsverlag erschienenen Buches, das sich mit dem sowjetischen Speziallager Sachsenhausen befaßt, teilt solche Empörung nicht, sondern verweist darauf, daß dies eher eine pragmatische Entscheidung als eine sowjetische Besonderheit gewesen sei. Auch im Westen seien viele solcher ehemaligen NS-Stätten zur Internierung bestimmter Personengruppen benutzt worden. Selbst angesichts der Tatsache, daß alsbald in Sachsenhausen ein großes Sterben einsetzte, verneint der Autor jegliche Schlußfolgerung, daß hier dem NS-Regime nachgeeifert wurde und die physische Vernichtung der Gefangenen das Ziel gewesen sei.

Unterernährung, mangelnde medizinische Betreuung, völlige Abgestumpftheit gegenüber allen Klagen der Inhaftierten über ihre Behandlung, daraus resultiere die hohe Zahl der im Lager zugrunde gegangenen Menschen. Jedoch sollte man wohl nicht übersehen, daß die von den Angehörigen des NKWD bei den Verhören praktizierten Gewaltanwendungen denen der Gestapo in nichts nachstanden.

Im Herbst 1946 gab es in Sachsenhausen etwa 12.000 Häftlinge. Die meisten von ihnen waren nationalsozialistische Funktionsträger, so Blockwarte, Ortsbauernführer, Leiterinnen von NS-Frauenschaften, Führer von HJ und BDM. Doch nicht nur Deutsche zählten zu den Gefangenen, sondern bei einer Vielzahl von ihnen handelte es sich um Angehörige der von General Wlassow aufgestellten Russischen Nationalen Befreiungsarmee (ROA), ferner um sogenannte Ostarbeiter, die man beschuldigte, mit dem NS-Regime kollaboriert zu haben, und auch zahlreiche Polen, die als Angehörige der Armia Krajowa, der Heimatarmee, anfänglich die Deutschen bekämpft hatten, in den letzten Kriegsmonaten jedoch mehr und mehr ihre Gegnerschaft zur Roten Armee hervorkehrten.

Ein besonders niederträchtiges Kapitel stellte im März 1946 die Einlieferung von 6.400 Wehrmachtsoffizieren dar, die nach ihrer Freilassung aus anglo-amerikanischer Kriegsgefangenschaft über Erfurt in ihre mitteldeutsche Heimat zurückzukehren gedachten, wobei sie alle Warnungen, daß ihnen dies zum Verhängnis werden könnte, in den Wind schlugen. Als man ihnen in Erfurt zu verstehen gab, daß sie noch kurz in ein Quarantänelager müßten, bestiegen sie bereitwillig einen Zug.

Erst bei der Einfahrt auf dem Bahnhof Oranienburg, der von bewaffneten Rotarmisten umstellt war, dämmerte ihnen, daß sie in eine Falle getappt waren. Von Sachsenhausen aus wurden alle in die Sowjetunion deportiert, viele kehrten niemals zurück.

1948 ordnete Lawrenti Berija, Chef des sowjetischen Geheimdienstes, die Freilassung aller Funktionsträger der NSDAP an. Dies betraf 5.062 Personen, darunter auch Angehörige der SS.

Die plötzliche Wende beruhte auf einem Moskauer Kurswechsel. Nicht länger sollte die proletarische Karte allein ausgespielt werden, sondern ein Trumpf in der Hinterhand war als Stich für nationalkonservative Kreise in Westdeutschland bestimmt. Allen jetzt Entlassenen wurde von der sowjetischen Seite nahegelegt, der gerade zu diesem Zeitpunkt in der SBZ entstandenen Nationaldemokratischen Partei Deutschlands beizutreten, die als ein politisches Sammelbecken der Gestrigen fungieren sollte.

Die Lage in Sachenhausen veränderte sich immer mehr. Zahlreiche Jugendliche, welche es abgelehnt hatten, der Antifa-Jugend beizutreten, dem Vorgänger der FDJ, wurden der Unterstützung des Wehrwolfs bezichtigt und zu hohen Haftstrafen verurteilt. Ebenso erging es vielen SPD-Funktionären, die sich entweder der Vereinigung mit der KPD widersetzt hatten oder gegen die immer stärker um sich greifende Sowjetisierung Mitteldeutschlands opponierten. Etwa zwanzig Prozent der in Sachsenhausen  eingesperrten Sozialdemokraten waren bereits vom NS-Regime verfolgt worden.

Bis zum Jahre 1949 wurden in Sachsenhausen insgesamt 60.000 Häftlinge eingesperrt. Als 1950 die Auflösung aller sowjetischen Speziallager in der inzwischen entstandenen DDR erfolgte, kamen aus Sachsenhausen 15.000 Personen frei. Doch was war dies für eine Freiheit? Zehntausend von ihnen galten als Verurteilte sowjetischer Militärtribunale und wurden jetzt den DDR-Behörden zur weiteren Abstrafung übergeben. Für viele bedeutete dies neues unsägliches Leid. Insgesamt kamen in den sowjetischen Speziallagern 40.000 Inhaftierte ums Leben.

Günter Fippel: Demokratische Gegner und Willküropfer von Besatzungsmacht und SED in Sachsenhausen (1946 bis 1950). Das sowjetische Speziallager Sachsenhausen – Teil des Stalinschen Lagerimperiums. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2008, gebunden, 270 Seiten, 32 Euro

Foto: Räumung des sowjetischen KZ Sachsenhausen 1950: 40.000 kamen in den „Speziallagern“ um

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen