© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/07-01/08 21./28. Dezember 2007

Das Fernsehen setzt auf Bewährtes: Märchen haben Konjunktur
Urquell deutscher Dichtung
Ellen Kositza

Wir erleben einen Märchen-Boom, dem nicht nur jahreszeitliche Konjunktur zugrunde liegt: "Kirchen-Rebell" Eugen Drewermann erklärt uns das kapitalistische Wirtschaftssystem anhand einiger Grimm-Märchen. Der Bayerische Rundfunk arbeitet an einer opulenten "Zwerg Nase"-Verfilmung, und der RBB nimmt "Frau Holle" in Angriff. Die zwölfteilige Märchenserie auf Pro7 hatte überwältigende Einschaltquoten, die beiden "Sieben Zwerge"-Kinofilme wurden Kassenschlager, und Jahr für Jahr beglücken uns mehr professionelle Märchenerzähler auf Kinderfesten. Doch Achtung! Lassen wir uns - respektive unseren Kindern - keine Märchen erzählen! Die Sache ist heikel. Märchen sind mit Vorsicht zu genießen. Das Problem liegt weniger in ihrem Inhalt denn ihrer Interpretation.

Braucht es wirklich eine Anleitung zur Märchenvermittlung? Ja, durchaus! Und diese Anweisung wäre denkbar knapp: Märchenstunden nie outsourcen! Selbst vorlesen, selbst erzählen, ist das Gebot der Stunde. Ansonsten: allenfalls eine alte Märchenkassette einlegen oder, wenn's gar nicht anders geht, einen Defa-Märchenfilm. Ein Hauch sozialistischer Realismus mag verkraftbar sein - nahezu alles andere in punkto Märchenvermittlung ist fatal.

Nein, wir reden nicht dem berüchtigten Märchen-Schlachten der emanzipatorischen 68er-Kritik das Wort. Die besagte folgendes: Märchen seien erstens wirklichkeitsfremd, zweitens grausam und drittens aufgrund ihrer feudalen Struktur antiquiert: Märchenlektüre führe zu Obrigkeitsgehorsam, ja, die Grimmschen Märchen seien - Günter Kunert 1982 - "geistige Anstifter der 'Endlösung'". Letzteres Argument dürfte obsolet, das der Grausamkeit relativ und der Hinweis auf die Realität interpretierbar sein: Zwischen Wirklichkeit und Wahrheit führt eine Brücke, die sich mit dem deutschen Volks- und Kunstmärchenkanon recht sicher beschreiten läßt.

Rot allerdings leuchtet die Märchenwarnlampe, wo es um die Vielzahl moderner Adaptionen geht. Beginnen wir im Kino, und verlieren wir kein Wort über die anti-ästhetischen, unpoetischen Kitsch-Schinken aus dem Hause Disney. Belassen wir es beim Blick auf die Otto-Waalkes-Witzigkeiten "Sieben Zwerge - Männer allein im Wald" und dessen Nachfolger "Der Wald ist nicht genug": plebejische Blödeleien, durchsetzt von genitalen Anspielungen, damit auch Vati mal lachen darf. Ähnliche Attribute treffen auf den Animationsfilm "Es war einmal k'ein Märchenland" zu. Kurz: Ein Grundschüler dürfte von einem "Tatort" weniger Dachschaden davontragen.

Ähnliches gilt für die - wie die Waalkes-Filme hochprominent besetzte - Pro7-Serie, die ebenfalls unter das bereits ältere Genre der Märchenparodie fällt. Der Schneewittchen-Titel etwa lautet "7 Zipfel und ein Horst". Die Hauptfigur ist eine verwöhnte Zicke, deren Antagonistin "einen ziemlichen Hau" weghat und "schizophrene Selbstgespräche mit ihrem Spiegelbild" führt, weil sie "einen psychologischen Komplex" (sämtlich O-Ton Pro7) hat. In der Dornröschen-Folge werden wir mit dem "hygienischen Problem" der 13. Fee konfrontiert, und während in einer weiteren Folge sich Rotkäppchen umzieht, kriegt "Herr Wolf" eine mächtig lange Zunge und wird "richtig geil". Zum riesigen Exportschlager ist auch die 26teilige "SimsalaGrimm"-Serie geworden, wo zwei alberne Comicfiguren die Grimm-Märchen cool moderieren.

Auch in der Schule stehen Märchen auf dem Lehrplan, sprich: Sie werden "durchgenommen". Die Aufgabenbeispiele (hier aus dem Oldenbourg-Lehrbuch für die 5. Klasse Gymnasium) sind beredt: Stellt einen modernen Märchen-Comic zusammen! Oder: Verdient Rumpelstilzchen nicht eher unser Mitleid, weil es nur einen Freund sucht? Erfinde selbst einen Schluß, der deiner Meinung nach gerecht ist!

Kinder brauchen Märchen, ja. Sie sollen, wie es einst in der reformpädagogischen Kunsterziehungsbewegung hieß, am "Urquell deutscher Dichtung, der dichtenden Volksseele lauschen lernen". Vor allem brauchen sie dies: (Groß-)Eltern, die ihnen erzählen und vorlesen.


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