© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/07-01/08 21./28. Dezember 2007

Verschwörungen auf der Spur
Anthroposophie: Eine Fachtagung geht dem politischen Wirken des geistigen Urvaters Rudolf Steiner nach
Fabian Schmidt-Ahmad

Rudolf Steiner (1861-1925) ist in der Öffentlichkeit vor allem bekannt als Okkultist und Begründer der Anthroposophie. Aber selbst in anthroposophischen Kreisen wissen heute nur wenige von den politischen Impulsen, die Steiner in der dramatischen Zeit nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu geben versuchte. Schließlich widerspricht dies dem Bild des weltabgewandten und völlig unpolitischen Spiritisten, welches diese Kreise häufig selbst zeichnen. Wohl nicht ganz ohne Grund, denn Steiners politische Äußerungen dürften heutzutage nahezu vollständig unter den Bannstrahl "politischer Korrektheit" fallen, wie es beispielsweise in dem jüngst angestrengten Indizierungsverfahren gegen Schriften Steiners zum Ausdruck kam (JF 37/07).

In der Tat zeichnete die Fachtagung "Verborgene Aspekte der Weltkriegskatastrophe 1914-1919", welche Ende November in Pforzheim stattfand, auch ein deutlich anderes Bild von Steiner. Hier wurden Aspekte in dessen Wirken aufgegriffen, die aus heutiger Sicht für gewöhnlich als problematisch gelten. So machte Steiner in einem öffentlichen Vortrag in der Schweiz am 11. Dezember 1916 deutlich, daß eigentlich Großbritannien als treibende Kraft zum Kriegsausbruch zu sehen ist: "Ich möchte nur bemerken, daß Dinge geschehen sind, aus denen vernünftigerweise gar nichts anderes gefolgert werden konnte, als (...) daß hinter denjenigen, die gewissermaßen die Hampelmänner sind, in England eine mächtige, einflußreiche Gruppe von Menschen existiert, die absolut zum Kriege mit Deutschland trieb."

Nach Steiner ist es eine Illusion zu glauben, erst die Verletzung der belgischen Neutralität habe England zum Krieg gegen Deutschland gebracht. In Wirklichkeit sei dies nur als Anlaß aufgebaut worden. Hier verweist Steiner auf Dokumente, die in der Tat nahelegen, daß der britische Außenminister Edward Grey an Sicherheitsgarantien Deutschlands nicht interessiert war: "Und das wird die Geschichte einstmals feststellen, daß die Neutralität Belgiens niemals verletzt worden wäre, wenn Sir Edward Grey die Erklärung abgegeben hätte, die es ihm leicht gewesen wäre abzugeben, wenn er seinem Willen hätte folgen können. Da er aber seinem Willen nicht zu folgen hatte, (...) so mußte er eine Erklärung abgeben, durch welche die Notwendigkeit entstand, die Neutralität Belgiens zu verletzen."

Verschwörungstheorien gegen das Deutsche Reich

Schon an dieser Stelle zeigt sich wohl die Hauptschwierigkeit, welche die unbefangene Betrachtung erschwert. Denn Steiner geht von einem Einfluß transzendenter Kräfte in der Geschichte aus, derer sich die gegenwärtige Menschheit bewußt werden müsse: "Es werden sich gewisse okkulte Lehren der reifenden Erkenntnis der Menschen (...) als notwendig ergeben, und denen, die sich solchen Dingen verschließen, wird sich in der Zukunft der Stempel der Unwissenheit (...) aufdrücken müssen." Dazu gehört auch, daß Steiner vom okkulten Wirken bestimmter westlicher Gruppen sprach, die danach strebten, die Weltgeschichte in einem egoistischen Sinne zu leiten.

Konkret deutete Steiner dabei auf die Anwendung bestimmter Techniken hin, etwa die, sich bestimmte Menschen in der Politik als Marionetten aufzubauen, die dann - ohne daß diese sich dessen bewußt wären - als Medium gebraucht werden. Heute entspricht eine solche Sichtweise natürlich recht genau der Vorstellung von "kruder Verschwörungstheorie". Doch man sollte sich vergegenwärtigen, daß es in einer historischen Betrachtung weniger darauf ankommt, ob man persönlich eine Sache glaubt oder nicht, sondern ob diese im geschichtlichen Werden wirkmächtig ist. Denn auf der Tagung gelang es Terry Boardman, anhand einer umfangreichen Auswertung von Biographien verschiedener hochrangiger Persönlichkeiten im Umfeld von Grey aufzuzeigen, daß diese - wie er selbst - tatsächlich spiritistische Neigungen hatten und sich zu entsprechenden "Clubs" zusammenfanden.

"Okkulte Brüderschaften" kein Hirngespinst

So befremdlich es auch für heutige Ohren klingen mag: Wenn Steiner auf "okkulte Brüderschaften" in den Balkanländern zu sprechen kommt, als deren eine Maske er die Narodna Odbrana bezeichnete, die nicht nur bei dem Attentat von Sarajevo eine bedeutende Rolle spielte, muß man doch in Betracht ziehen, daß sich Menschen gemäß diesen Überzeugungen verhalten können. Daß ein entsprechendes Netzwerk in den Balkanländern zu dieser Zeit durchaus plausibel erscheint, legte der Historiker und Slawist Markus Osterrieder dar. Wenn diese Menschen dann aus ihrer Überzeugung heraus Geschichte schreiben, muß auch dieser Hintergrund mit einbezogen werden, unabhängig davon, was man davon persönlich hält. Denn ein Historiker, der vor dieser möglichen Wirkung die Augen verschließe, gleicht einem Atheisten, der die politische Wirkung der Religion leugnet, weil diese im eigenen Weltbild keinen Platz hat.

Ein Tagungsbericht ist demnächst zu beziehen bei der Anthroposophischen Vereinigung, Marktplatz 4, 75175 Pforzheim oder im Internet unter: http://www.fav-pforzheim.de/Antropo /


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