© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/07 07. Dezember 2007

Ein Präzedenzfall mit Nebenwirkungen
Kosovo: Die Unabhängigkeitserklärung ist nicht mehr aufzuhalten / Zäsur für die Staatenordnung auch außerhalb des Balkans
Günther Deschner

Inzwischen ist klar, daß die Verhandlungen über die Zukunft des Kosovo gescheitert sind. Die politischen Forderungen und das historisch-kulturelle Selbstverständnis Serbiens und der Kosovo-Albaner standen sich diametral gegenüber: Während für Belgrad alles denkbar schien außer der staatlichen Unabhängigkeit des Kosovo, kam für die Kosovaren nichts anderes in Betracht. Ihr Scheitern muß die im Uno-Auftrag gebildete Verhandlungstroika aus der EU, Rußland und den USA am letzten Tag des Mandats, am 10. Dezember, dem UN-Generalsekretär Ban Ki Moon melden. In seiner Sitzung vom 19. Dezember soll der Sicherheitsrat dann die Situation diskutieren.

Nach dem bisherigen Verlauf des Ringens zu urteilen, müssen die Kosovo-Albaner jetzt nur noch abwarten, daß ihnen der Sieg in Form der Unabhängigkeit zufällt. Rußland als Serbiens historische Schutzmacht wird wohl noch einmal die Argumente auflisten, die dagegen sprechen. Am wenigsten überzeugend ist dabei der Verweis auf die UN-Resolution 1244, die die Zugehörigkeit des Kosovo zu Serbien konstatierte. Belgrad hat angekündigt, daß es mit Berufung auf diesen Rechtstitel vor internationalen Gerichten gegen die Sezession des Kosovo klagen will. Doch diese Resolution sagt nichts über den endgültigen Status des Kosovo, sondern sie beschreibt nur einen Prozeß, der in eine politische Entscheidung über das Gebiet münden soll. Daß diese von der Uno zu treffen sei, ist aber nicht unausweichlich. Weder untersagt die Entschließung den Albanern, ihre Unabhängigkeit zu erklären, noch anderen Staaten, diese anzuerkennen. Juristisch wird die Unabhängigkeit des Kosovo so kaum zu verhindern sein.

Politisch stichhaltiger kann aber ein anderes Argument aus Belgrad sein. Serbiens Präsident Boris Tadić brachte es auf die Formel: Überall auf dem Balkan sei "Kosovo". Wenn man Serbien teilen könne, dann könne man auch das Kosovo teilen - in den albanischen Süden und einen (kleinen) serbischen Norden. Konzentriert in der Region um die Stadt Mitrovica stellt die noch 120.000 Menschen umfassende serbische Minderheit sieben Prozent der Gesamtbevölkerung des Kosovo. Als Zeichen des Protests gegen den albanischen Unabhängigkeitskurs haben die Kosovo-Serben bereits die Parlamentswahlen vom November boykottiert. Ob die Unabhängigkeitserklärung der Kosovo-Albaner nicht zu neuen Gewaltausbrüchen zwischen Albanern und Serben führt, weiß noch niemand. Vorsorglich hat die Bundeswehr bereits ein zusätzliches Reservebataillon zur Verstärkung der Schutztruppe Kfor in die im Südwesten gelegene Stadt Prizren entsandt, um "weiter für Stabilität zu sorgen", wie Verteidigungsminister Franz Josef Jung mitteilte.

Auch anderswo auf dem ethnisch zerklüfteten Balkan könnten sich nun Volksgruppen und Minderheiten zu eigenen Unabhängigkeitsplänen ermutigt fühlen. Warum, so fragt Tadić, sollen die Albaner im Kosovo unabhängig werden, die Serben in Bosnien aber nicht? In Bosnien-Herzegowina haben sich die Verheißungen eines "von der internationalen Gemeinschaft" erzwungenen multiethnischen Einheitsstaates ohnehin nicht erfüllt.

Die Spannungen nehmen zu. Die Führer der dortigen Republika Srpska  haben im November schon einmal die Muskeln spielen lassen und den Konflikt mit der Zentralmacht in Sarajevo verschärft. Ähnliche Probleme stellen sich in Montenegro, das sich 2006 vom Staatenbündnis mit Serbien lossagte und das ebenfalls Minderheiten aufweist. Schon jetzt ist deutlich, daß die einseitige Erklärung der Unabhängigkeit des Kosovo und ihre erwartete Anerkennung durch die USA und die EU einen Domino-Effekt des Separatismus weit über den Balkan hinaus auf ganz Europa und auf andere Gegenden der Welt verursachen kann. Das gilt zum Beispiel für Flandern, das sich ohnehin schon halb vom ungeliebten Kunststaat Belgien entfernt hat und das sich über jeden Impuls freut, der die eigenen Argumente politisch unterstützen kann.

Auch die baskische Unabhängigkeitsbewegung könnte zukünftig auf das kosovarische Modell verweisen. Dessen Fernwirkung kann leicht auch über Europa hinaus zu spüren sein: Was etwa könnte Rußland noch davon abhalten, seine kaukasischen Enklaven Abcha- sien und Südossetien als eigene Staaten anzuerkennen? Vage Hoffnungen Belgrads, daß eine solche Entwicklung sogar die Amerikaner erschrecken könnte, die bislang zur Anerkennung Kosovos fest entschlossen sind, dürften allerdings vergeblich sein.


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