© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/07 23. November 2007

Der Zauber des Alterns
Die Wiener Ausstellung "Der späte Tizian" lüftet den Grauschleier über den Spätwerken des Meisters
Ekkehard Schultz

Fleckenmalerei", unvollendete Bilder, Produkte eines Mannes, der kaum noch den Pinsel halten konnte - an sehr harten Urteilen von Zeitgenossen über das Schaffen des venezianischen Malerfürsten Tiziano Vecellio (oder vereinfacht Tizian) in dessen letzten 25 Lebensjahren besteht kein Mangel.

Solche Auffassungen haben Einzug in Teile der Kunsthistorie mehrerer Jahrhunderte gefunden und sie teilweise bis heute geprägt. Denn die Malweise scheint in einem deutlichen Gegensatz zu dem charakteristischen Stil Tizians in seiner Hauptschaffensphase bis etwa 1550 zu stehen, welche nahezu einhellig als genial bezeichnet wird. Die hervorragende Umsetzung der feinsten Pinselstrichtechnik und überaus reichhaltigen Farbkompositionen hatte dazu beigetragen, daß Tizian bereits im Alter von vermutlich 26 Jahren - im Jahr 1516 - zum Maler der Serenissima erkoren und schließlich 1533 von Kaiser Karl V. zum Ritter des goldenen Sporns erhoben wurde.

Doch warum änderte Tizian im Alter von etwa 60 Jahren seinen Stil deutlich? Um dieser Frage nachzugehen, präsentiert das Kunsthistorische Museum in Wien in Zusammenarbeit mit der Gallerie dell'Accademia in Venedig und der Soprintendenza Speziale per il Polo Museale Veneziano noch bis zum 6. Januar 2008 die Ausstellung "Der späte Tizian und die Sinnlichkeit der Malerei". Hier wird das Spätwerk des Meisters in einem Umfang beleuchtet, der bislang schon aus finanziellen und logistischen Gründen nicht möglich war.

Zu sehen sind neben rund 30 Gemälden aus Eigenbesitz - die meisten davon aus der zeitgenössischen Sammlung des Erzherzogs Leopold Wilhelm - weitere rund 30 Bilder dieser Jahre aus den berühmtesten Museen der Welt wie dem Prado in Madrid, der Eremitage in St. Petersburg, der Nationalgalerie in London. Ergänzt werden die Gemälde von einer Reihe von Kupferstichen, die gute Vergleiche und einen Einblick in die Entstehungsgeschichte der Bilder eröffnen.

Fest steht, daß Tizian bis ins hohe  Alter eine große Zahl von Auftragsarbeiten für höchste Gönner ausführte. Zu den bekanntesten zählt der spanische König Philipp II., für den Tizian neben mehreren Porträts u.a. "Die Heilige Margarethe mit dem Drachen" (um 1552), "Danae" (etwa 1560-1565), eine späte Version von "Tarquinius und Lucrecia" (1571) sowie "Der Heilige Hieronymus in der Wüste" (1575) malte. Als Höhepunkte des Spätwerks sind aber auch Werke wie das Selbstbildnis von 1562, "Venus vor dem Spiegel" (etwa 1567),  "Nymphe und Schäfer" (um 1570/75) und "Die Schindung des Marsyas" (genaue Entstehungszeit unbekannt) zu betrachten.

Wie groß das Interesse am Kauf von Bildern aus dieser Schaffenszeit war, erweist sich ferner daran, daß Tizian das eigentlich ebenfalls für Philipp II. bestimmte Bild "Die Heilige Magdalena in der Wüste" nach anfänglicher Weigerung zu einem weit höheren Preis an einen venezianischen Adligen verkaufte, der das Gemälde in Tizians Werkstatt gesehen hatte. Für Philipp II. fertigte Tizian schließlich eine Kopie an.

Warum dann aber trotz dieser großen Nachfrage der radikale Stilwechsel? Zur Beantwortung einer solchen Frage reicht selbst ein fachmännischer Blick auf die Werke allein nicht aus. Deshalb wurde großer Wert auf die Einbindung der Ergebnisse von Restaurierungsarbeiten später Tizian-Werke gelegt, was sich auch im Ausstellungskatalog widerspiegelt. Exakte Farbbestimmungen und Röntgenaufnahmen sollen nähere Hinweise dazu liefern, wie die Bilder im einzelnen entstanden sind und was sie möglicherweise unter ihrer Oberfläche verbergen. Dazu ist es freilich auch notwenig, die daraus gewonnenen Kenntnisse mit neueren Untersuchungen von Werken der Hauptschaffensperiode zu vergleichen. Schon aus diesem Grunde können die entsprechenden, aufwendigen Arbeiten freilich auch mit der aktuellen Ausstellung noch längst nicht beendet sein. Sie werden sich noch über mehrere Jahre erstrecken.

Tatsächlich spricht nach dem aktuellen Stand der Untersuchungen vieles dafür, daß es mehrere Motivlagen gab, welche den Stilwechsel Tizians begründeten. So wurde etwa beim Vergleich der Porträts - durch die Tizian schon in jungen Jahren zu großer öffentlicher Anerkennung gelangt war - festgestellt, daß sich die Art und Weise des Pinselstriches ab 1550 deutlich veränderte.

War bis etwa 1550 der exakte, dünne, gleichmäßige Strich prägend, welcher teilweise den Bildern trotz Leinwand einen nahezu aquarellartigen Ausdruck verleiht, so zeichnen sind die wenigen Porträts der Spätzeit durch kurze, dick mit Farbe getränkte Striche und zahlreiche Übelmalungen aus. Diese Veränderungen sind daher wohl tatsächlich auf den physischen Zustand Tizians zurückzuführen, insbesondere auf Probleme mit der Feinmotorik und mit den Augen. Damit ist wohl auch zu erklären, weshalb Tizian in den letzten Jahren seines Lebens generell auf die Anfertigung von Gemälden verzichtete.

Dagegen zeigt die Analyse der Farbpigmente von Werken der Spätphase allerdings, daß der erste Eindruck einer spärlicheren und oberflächlichen Verwendung unterschiedlicher Farbtöne täuscht. Die Restauratoren stellten vielmehr fest, daß die Palette der Farbtöne kaum von den Werken der Hauptschaffensperiode abweicht: Vielmehr verraten die teilweise monoton dunkel wirkenden Hintergründe einen sehr hohen Arbeitsaufwand. Es scheint daher, daß Tizian nach den Vorzeichnungen mit einer nachträglichen Verdunkelung den dramatischen Effekt für den Betrachter erhöhen wollte. So könnte der "Grauschleier" durchaus ein bewußt eingesetztes Stilmittel sein, mit dem sich Tizian von seinen Zeitgenossen absetzen wollte; eine Technik, die teilweise bereits expressionistische Züge trägt und ihrer Entstehungszeit weit voraus war.

Für eine solche These spräche auch die Antwort Tizians an den Botschafter Karl V., Francisco de Varga. Auf dessen Frage, warum Tizian nunmehr mit so kühner Pinselführung und nicht mehr in der Feinmanier von Malern wie Michelangelo oder Raffael arbeite, hatte der Venezianer geantwortet, daß er deren Werke "nicht kopieren" und "an diesen gemessen werden" möchte. Statt dessen werde er "einen neuen Weg ... suchen, der Ruhm verschafft", so wie sich "die anderen ... auf ihre Weise Ruhm verschafft" hätten.

Eine neue Qualität in der Diskussion über Tizians Spätwerk ist damit eröffnet. Unterdessen sollte der Liebhaber herausragender Gemälde eines der größten Maler der Geschichte den Besuch der Wiener Ausstellung auf keinen Fall versäumen. Vielleicht kann er ja selbst dem Geheimnis ein wenig auf die Spur kommen.

Die Ausstellung "Der späte Tizian und die Sinnlichkeit der Malerei" ist bis zum 6. Januar 2008 im Kunsthistorischen Museum Wien, Burgring 5, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, Do. bis 21 Uhr, zu sehen. Weitere Informationen im Internet unter www.khm.at . Der reich bebilderte, sehr empfehlenswerte Katalog zur Ausstellung kostet 35 Euro.

Fotos: Tizian, "Hl. Margarethe mit dem Drachen" (um 1552); Tizian, "Hl. Hieronymus" (um 1575): Die Nachfrage blieb groß; Tizian, Selbstbildnis (um 1562)


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