© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/07 16. November 2007

CD: Neofolk
Streifzug
Martin Lichtmesz

Ein Buch über Musik ohne die Möglichkeit, sie hören zu können, ist wie eine Künstlermonographie ohne Abbildungen. Parallell zu dem Buch "Looking for Europe" (JF 45/07) hat der Verlag Prophecy eine von den Autoren selbst zusammengestellte Musik-Anthologie herausgebracht. Sie enthält vier CDs und erscheint in Form eines kleinen Büchleins, das im typischen Neofolk-Stil mit Frakturschrift und Krukenkreuz in Gold geschmückt ist. Dazu kommt eine hundert (!) Seiten starke, reich bebilderte Vorstellung der auf den CDs vertretenen Bands von Zinnober-Herausgeber Dominik Tischleder in deutscher und englischer Sprache.

Als ein erster Versuch einer Synopsis und Bilanz ist die Zusammenstellung vor allem unter enzyklopädischen Gesichtspunkten erfolgt. Besonders reizvoll erweist sich dabei die Idee der Macher, nicht nur die "Neofolker", sondern auch ihre bis in die 1960er Jahre zurückreichenden Vorläufer und Vorbilder aufzunehmen. Da finden sich etwa der ebenso geniale wie mysteriöse Scott Walker oder Velvet Undergrounds teutonische Muse Nico.

Aber auch obskurere Referenzen sind vertreten wie die Folk­rock-Band The Strawbs, die vergessenen Royal Family & The Poor aus dem Umfeld von New Order, der makabre Balladensänger Paul Roland oder das pittoreske, seit fast vierzig Jahren aktive Duo Changes. Psychic-TV-Gründer und Ziehvater unzähliger Stars des Genres, Genesis P-Orridge, hat die Vertonung eines Gedichtes von William Blake beigetragen. Natürlich dürfen die slowenischen Laibach auch nicht fehlen, deren postmodernes Spiel mit totalitärer Ästhetik wesentlichen Einfluß auf den Neofolk hatte. Einer der wichtigsten "Vorläufer", der im Buch ausführlich behandelt wird, fehlt leider: der kanadische Barde und Poet Leonard Cohen.

Restriktionen finanzieller, rechtlicher und persönlicher Natur haben die Herausgeber leider zu Kompromissen gezwungen. So mußte man teilweise auf Aufnahmen zweiter Wahl zurückzugreifen wie bei der Live-Version des berüchtigten NON-Stückes "Total War". Auch manche exklusiv veröffentlichte Nummer ist eher enttäuschend ausgefallen, wie das Blood-Axis-Stück "The Ride" - die einst martialischte aller Bands hat übrigens inzwischen einen Imagewechsel zum neuheidnischen "Hippie"tum vollzogen, komplett mit Rauschebärten und langen Haaren.

Eines der wichtigsten Projekte fehlt völlig: Der inzwischen zum gläubigen Christen gewandelte David Tibet betrachtet die Produktion seiner frühen Jahre nur mehr als nihilistisches Teufelszeug, und er wünschte keine Veröffentlichung von Current-93-Titeln in dem betroffenen Umfeld. Als Mentoren der gefeierten Antony and The Johnsons und Paten der "New Weird America"-Bewegung stehen Current 93 inzwischen an der Schwelle zum Mainstream; die Lobeshymnen, etwa in der Welt am Sonntag, verschwiegen geflissentlich die frühere Zusammenarbeit mit Death In June. Das englische Musikmagazin Wire hat dementsprechend gespottet, es sei bezeichnend, daß die einzige Gruppe von künstlerischer Relevanz auf der Kompilation absent sei.

Das ist natürlich zuhöchst ungerecht. Neben den prägenden angelsächsischen Projekten wie Death In June, Fire + Ice und Sol Invictus (mit einer eher müden Neuaufnahme des titelgebenden Liedes "Looking for Europe") finden sich vor allem deutsche (Forseti, Orplid, Hekate, Darkwood), österreichische (Der Blutharsch, Allerseelen) und italienische (Argine, Ataraxia, Ain Soph, Camerata Mediolanense) Vertreter des Genres, aber auch die Ungarn Scivias und die Königsberger "Pruzzen" Romowe Rikoito. Alles in allem ein gelungener Streifzug von unebener Qualität, der vor allem Einsteigern ans Herz gelegt sei.


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