© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/07 09. November 2007

Als Würdigung durchaus gelungen
Die Germanistin Barbara Koehn riskiert eine "Summa" der Widerstandsforschung zum 20. Juli 1944
Ludger Schultz

Zufall oder präzise Verlagsplanung? Pünktlich zum 100. Geburtstag Claus von Stauffenbergs jedenfalls erscheint nach langer Zeit wieder einmal eine "Summa" der Widerstandsforschung. Sie stammt aus der Feder Barbara Koehns, einer emeritierten Literaturwissenschaftlerin, von 1967 bis 2001 an der Universität Rennes lehrend, die bislang auf diesem zeitgeschichtlichen Terrain noch nicht in Erscheinung getreten und daher als eine Art Überraschungsgast zu begrüßen ist.

Koehn setzt da an, wo Peter Steinbach, der umstrittene Matador auf diesem Forschungsfeld, einst begann, um die Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand zu "modernisieren": Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus solle in seiner "ganzen Breite" erfaßt und vermittelt werden. War dies bei Steinbach bis 1989 auch die programmatische Basis, um im "antifaschistischen" Konsens und in enger Abstimmung mit den Geschichtspolitikern der SED den kommunistischen Widerstand sowie die Aktivitäten des von Moskau abhängigen Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD) in die Ausstellung zu integrieren, ist Koehns Unterfangen mit solchem ideologischen Gepäck nicht belastet.

Koehn kann sich daher, gestützt auf die "Erträge der Forschung", zunächst darauf beschränken, das gesamte Spektrum des deutschen Widerstands gegen Hitler zu entfalten: Arbeiter, Jugend, Kirchen, Exil, Konservatismus und schließlich der Komplex "20. Juli", der trotz des nationalkonservativen Übergewichts doch auch eine Synthese (fast) aller "Widerstandmilieus" bildete. Entsprechend der persönlichen Vorbildung und Vorlieben der Autorin erfahren dabei die bis 1938 in Frankreich zentralisierten Bemühungen des literarischen Exils sowie das NKFD im Kalkül von Stalins Deutschlandpolitik eine ebenso breite Würdigung wie der christliche Widerstand im Reich.

Vergleichsweise knapp handelt sie die Jugendopposition und den "Widerstand der Arbeiter" ab. Wie man hinter ihr allzu optimistisches Resümee, der Kampf der Kirchen gegen das NS-Regime sei als ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur "unio sancta der Kirchen Christi" zu werten, ein großes Fragezeichen setzen darf, so sehr dürfte man zögern, ihr bei der Einordnung des "proletarischen" Widerstand zu folgen. Denn allzu eilig gleitet Koehn hier über die Gegensätze zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten hinweg, allzu sehr vernachlässigt sie die anhaltende Diskussion über die NS-Sozialpolitik, wenn sie darüber reflektiert, inwieweit es Hitler gelungen sei, "die" Arbeiter in die "Volksgemeinschaft" einzubinden.

An solchen Stellen offenbaren sich die größten Schwächen der von Koehn explizit als "Würdigung" angelegten Arbeit. Denn nicht zufällig nimmt sich der Anmerkungsapparat arg minimalistisch aus, bleibt die Bibliographie überschaubar. Koehn bezahlt die Übersichtlichkeit ihrer Summa mit einem Mangel an Komplexität. Was unter Zeithistorikern noch problematisch ist, bleibt ausgespart. Vielfach gelangt die Autorin über den Forschungsstand der achtziger Jahre nicht hinaus. So rekurriert sie etwa in ihrem dankenswerten Bemühen, einen Geschichtsklitterer wie Daniel J. Goldhagen in ihrem Kapitel über den "Widerstand der jüdischen Bevölkerung" in die Schranken zu weisen, auf die inzwischen überholte Ansicht, "das deutsche Volk hatte jedenfalls keine Kenntnis von der schrecklichen Realität der Massenerschießungen und der Vernichtungslager", bzw. nur eine "verhältnismäßig geringe Zahl Eingeweihter" habe gewußt, "was wirklich geschah".

Zu diesen blinden Flecken gesellen sich leider viele sachlich falsche Detailinformationen. So kamen die 16.500 deutschen Juden im Oktober 1941 nicht "auf mehr als abenteuerlichen Wegen" ins Ausland, sondern durften als letzter "Schub" aus dem Reich legal, in der Regel über Spanien in die USA, ausreisen. Unerklärlich bleibt die Behauptung, Hitler sei 1939 "unverzüglich an die Verwirklichung der Judenvernichtung" gegangen, wenn Koehn sofort anschließend erörtert, bis 1941 habe die ernsthafte Option einer Aussiedlung nach Madagaskar bestanden. Falsch ist die Behauptung, auf den "Judenboykott" vom 1. April 1933 sei ein jüdischer "Gegenboykott" gefolgt. Die Daten werden hier einfach vertauscht. Hinzu kommt eine stattliche Anzahl von ärgerlichen Flüchtigkeitsfehlern: So tauft die Autorin Oswald Spengler in Oskar um, den ostpreußischen Schriftsteller David Luschnat in Daniel, macht aus dem Nationalökonomen Jens Jessen einen "Professor der Rechte" und ernennt den Kunsthistoriker Wilhelm Pinder nachträglich zum "Leiter der Berliner Museen".

Alles in allem darf der Leser dies jedoch als Kollateralschäden verbuchen, die zwangsläufig bei dem verdienstvollen Versuch einer nicht der zeithistorischen "Zunft" angehörenden Autorin entstanden sind, eine Schneise durch den Forschungsdschungel zu schlagen. Viel Zündstoff enthält das abschließende Kapitel über "Die Projekte für das neue Deutschland". Hier referiert Koehn nicht länger die Forschung, sondern bezieht einen höchst eigenwilligen Standpunkt mit der These, es habe von links bis rechts eine breite, zukunftsfähige Übereinstimmung unter den Regimegegnern gegeben, die bei allen weltanschaulichen Differenzen doch gestatte, von der "Einheit des Widerstands" zu reden.

Wo diese Einheit in der Kritik am Weimarer Parteienpluralismus, an der parlamentarischen Demokratie, an Kapitalismus und Liberalismus festzumachen ist - oder positiv am Eintreten für den starken Sozialstaat und eine staatlich regulierte Wirtschaft -, da war dies bisher von Hans Mommsen bis Gerd Ueberschär nur Anlaß für das einstimmige Lamento über die "vordemokratischen" Dispositionen des deutschen Widerstands, der insoweit schlecht für eine "grundgesetzkonforme" Traditionsstiftung tauge. Barbara Koehn verficht demgegenüber mit ihrer Inspektion der politisch-ökonomischen Alternativmodelle des Widerstands eine erfrischend alternative Einschätzung.   

Foto: Büste Stauffenbergs im Berliner Bendlerblock: Nicht in allen Belangen für eine "grundgesetzkonforme" Traditionsstiftung tauglich

Barbara Koehn: Der deutsche Widerstand gegen Hitler. Eine Würdigung. Duncker&Humblot, Berlin 2007, broschiert, 368 Seiten, 28 Euro


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