© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/07 09. November 2007

Zwei mal drei macht vier
Kinderbücher: Zum hundertsten Geburtstag der bis heute unerreichten Astrid Lindgren
Ellen Kositza

Daß zum 100. Geburtstag Astrid Lindgrens am 14. November nur umfassende Huldigungen zu erwarten sind, ist das eine. Das ist gut, angemessen und doch nicht selbstverständlich: Über die Jahrzehnte ihres Schaffens hatte sich die schwedische Kinderbuchautorin mitunter harscher Kritik ausgesetzt sehen müssen - dazu gleich mehr.

Das andere ist die Folgenlosigkeit dieses Lobs. Denn Lindgrens Erbe ist vakant. Überdeutlich wurde dieser Sachbestand darin: Der nach ihr benannte Kinderbuch-Preis, den ihr deutscher Verlag Friedrich Oetinger zum wiederholten Male gestiftet hatte, konnte auf der gerade vergangenen Buchmesse nicht verliehen werden. Unter 600 eingesandten Manuskripten hatte keines die gewünschte Qualität aufgewiesen; die ausgelobten 10.000 Euro gingen an ein nach Astrid Lindgren benanntes Kinderdorf in Westafrika.

Daß dieser Entscheidung keine Willkür des Verlagshauses (Friedrich Oetinger starb wie seine Hausautorin 2002) zugrunde gelegen haben dürfte, zeigt der Blick auf die Neuerscheinungen dieses Buchherbstes ebenso wie eine Sichtung der einschlägigen Buchhandlungsregale und Rubriken von Leihbüchereien. Nicht zuletzt die Kinderbuch-Rezensionen großer Zeitungen zeichnen sich im Normalfall durch eine nachgerade eklatante Maßstabslosigkeit aus. Es sind, so drastisch muß man es sagen, Blicke in einen Abgrund.

Bereits die Ordnung unserer städtischen Bibliothek für Erstlesebücher ist vielsagend: Die Kategorie "Zwischenmenschliche Problembewältigung" (Beispieltitel: "Wie ich Papa die Angst vor Fremden nahm") steht neben "Scheidungskinder" und "Umweltproblematik", daneben nur noch die unverdächtige Kategorie "Tiere". Wirklich ausgezeichnete Kinderbücher zu finden, ist schon ein Geschäft für sich. Bücher, die sowohl inhaltlich als auch ästhetisch (man denke an die grotesken, gewollt "künstlerischen" Illustrationen moderner, mitunter vielfach gepriesener  Kinderliteratur) der kindlichen Entwicklungsstufe der Kleinen angemessen sind, sind Mangelware. Astrid Lindgren hat es uns da verhältnismäßig leicht gemacht: Mit keinem ihrer über siebzig Bücher liegen Eltern völlig daneben.

Als Astrid Anna Emilia Ericsson wurde die spätere Nationalheldin 1907 im südschwedischen Vimmerby, historische Provinz Småland, geboren. Sie war das zweite von vier Kindern eines Pfarrhofpächter- und Bauernehepaares. Lindgrens Kindheit muß traumhaft gewesen sein - vielleicht bereits dies ein Umstand, den heutige Kinderbuchautoren entbehren? "Warum war es so schön? Darüber habe ich oft nachgedacht, und ich glaube, ich weiß es. Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist - Freiheit und Geborgenheit."

Von der Freiheit des Kinderlebens auf dem Lande hat die Schriftstellerin so oft gesprochen (ihre Bücher sind ein einziges Zeugnis davon) wie von dem Gleichklang aus Strengeerfahrung (die Geschwister mußten ordentlich anpacken) und Sich-behütet-Wissen. "Wir spielten und spielten und spielten, so daß es das reinste Wunder ist, daß wir uns nicht totgespielt haben. Wir kletterten wie Affen auf Dächer und Bäume, wir sprangen von Bretterstapeln und Heuhaufen, daß unsere Eingeweide nur so wimmerten, wir krochen durch riesige Sägemehlhaufen, lange, lebensgefährliche Gänge entlang, und wir schwammen im Fluß, lange, bevor wir überhaupt schwimmen konnten."

Nach ihrer Schulzeit begann sie ein Volontariat bei der Ortszeitung und zugleich eine Affäre mit dem Chefredakteur. Unehelich brachte die 18jährige ihren Sohn Lars (genannt Lasse, der Name durchzieht später ihre Bücher) zu Welt, der zunächst bei einer Pflegefamilie und den Großeltern aufwächst. Lindgren läßt sich in Stockholm zur Sekretärin ausbilden, tritt (übrigens als Nachfolgerin Zarah Leanders) eine Stelle in der Schwedischen Buchhandelgesellschaft an und lernt beim nächsten Arbeitgeber ihren zukünftigen Ehemann Sture Lindgren kennen. Damals schrieb sie schon kurze Märchen für die Zeitung, "Jugendsünden" nannte sie diese kleinen Moral-Stücke später.

Nach der Geburt von Tochter Karin (1934) war Lindgren einige Jahre Hausfrau. Noch Jahrzehnte später setzte sie diese Zeit als Notwendigkeit: "Eine Frau hat das Recht, einen eigenen Beruf zu haben, selbständig zu sein und Geld zu verdienen, aber wenn sie eigene Kinder bekommt, so sollte sie diese so lieben, daß sie mit ihnen gerne zumindest die ersten Jahre verbringt. Sie sollte nicht denken: Was für eine Schande, daß ich jetzt an die Kinder gebunden bin!"

Am Krankenbett der Tochter entstand 1941 die Idee zu Pippi Langstrumpf. Als sie das gleichnamige Manuskript 1944 bei einem Verlag einreichte, wurde es abgelehnt. Im gleichen Jahr gewann sie mit einem Mädchenbuch beim Kinderbuchwettbewerb des Verlags Rabén & Sjögren den zweiten Preis, im Folgejahr den ersten für "Pippi Langstrumpf".

Damit nahm Lindgrens Erfolgsgeschichte ihren Lauf. Ihre Bücher wurden weltweit - in Deutschland jüngst noch einmal neu - übersetzt. Neben den Märchenerzählungen und Bilderbüchern (in der Mehrzahl unverkennbar warmherzig illustriert von der Estin Ilon Wikland) stehen Alltagsgeschichten wie die von Michel (der im Original Emil heißt), den Bullerbü-Kindern und Kalle Blomquist und Phantasiestücke wie "Mio, mein Mio" und "Die Brüder Löwenherz". 

Ungezählt sind die Preise und Auszeichnungen, die Lindgren zeit ihres Lebens erhielt. Die Ehrungen prasselten nur so hernieder - darunter, dies als Pittoreske, auch der Iranische Kinderbuchpreis 1971 ausgerechnet für die in ihrer Zeit reichlich anarchisch daherkommende Pippi Langstrumpf. In Deutschland sind allein etwa einhundert Schulen nach Lindgren benannt. Gesellschaftlichen Zündstoff lieferte die Schriftstellerin gleichwohl häufig. Gerade die Geschichte des Wildfangs Pippi - Übermensch und bedauernswertes Waisenkind in einer Person - sorgt (mancherorts bis heute) für Unmut, in Schweden setzte man den Film 1980 auf den Index, französische Ausgaben des Buches erschienen über Jahrzehnte gekürzt.

Auch die vielleicht schönste, mit Sicherheit poetischste Geschichte aus Lindgrens Feder, "Die Brüder Löwenherz" (1973; ihr 32. Buch), stieß auf  breite Kritik, weil Mißgünstige (und man muß hier schon sehr voreingenommen lesen) darin unter zig Kritikpunkten eine Verherrlichung des Selbstmords lasen. Tatsächlich war Lindgren Mitglied im Verein "Das Recht auf unseren Tod"; daneben setzte sie sich neben ihrem literarischen Schaffen für Umweltschutz, gegen Massentierhaltung und immer wieder für Kinderrechte ein.

In einer anderen Sache ist ihr möglicherweise gar ein Regierungswechsel zu verdanken. In ihrem herrlichen Kurz-Märchen über den schwedischen "Wohlstandskuchen" von 1976 ("Pomperipossa in Monismanien", im Internet leicht nachzulesen) rief die ehemalige Sozialdemokratin in ihrem gewohnten und unnachahmlich naiven Ton zur Abwahl der Linken mit ihrer unmäßigen Steuerpolitik auf.

In den Wirtschaftswunderjahren beklagten Rezensenten die als unangemessen empfundene Melancholie, die manche ihrer Werke durchzog; ein Jahrzehnt später (im Rahmen der unerbittlichen Märchenkritik der 68er) wurde ihr umgekehrt zuviel Heiterkeit und Phantasterei vorgeworfen. Die Bullerbü- und andere ihrer Bücherwelten seien dem Zeitgeist enthoben, es würden Wunschwelten projiziert, die heute kaum zu verwirklichen seien. Noch zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1978 erschollen durch beinahe sämtliche Leitmedien ähnlichlautende Proteste. Klar, es war die Geburtsstunde der "kritischen", "realistischen" Jugendliteratur voll zermürbender Vergangenheitsbewältigung, Sozialkitsch und allseitigem Zerrüttungsschmodder. Was Wunder, das uns heute in der Sparte des Gerade-noch-Empfehlenswerten die allerfernsten Welten blühen; à la "Harry Potter" und Cornelia Funkes Bestsellern namentlich.

Es soll Großeltern geben, die den Enkeln in der Vorweihnachtszeit Versandhauskataloge und einen Stift zum Ankreuzen übergeben oder ratlos aus Geldscheinen Figürchen falten, damit das Weihnachtsgeschenk weder unerwünscht noch gar zu phantasielos daherkommt. Liebe und Zeit, diese ach-so-abgedroschen erscheinenden Begriffe, lassen sich auch ganz plastisch schenken. Astrid-Lindgren-Bücher (kein Familienhaushalt hat sie vollzählig, und die "Brüder Löwenherz" oder "Ronja Räubertochter" dürften auch Zwölfjährigen noch ein Leseabenteuer wert sein - zur Not täte es auch eine "Ferien auf Saltkrokan"-DVD), womöglich gepaart mit einem Vorlesegutschein: Das wäre Einfallsreichtum pur.

Bild: Herr Nilsson und Pippi Langstrumpf: Die Geschichte des Wildfangs erhielt sogar im Iran einen Preis, Astrid Lindgren: "Ein Wunder, daß wir uns nicht totgespielt haben"

Für Kinder ab 5 Jahren: Zum Geburtstag seiner Autorin hat der Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg, eine  ansprechend gestaltete, limitierte Astrid-Lindgren-Jubiläumsedition herausgebracht. 12 Bände im Schmuckschuber, über 4.000 Seiten, 98 Euro


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