© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/07 09. November 2007

Religiöser Analphabetismus
Religion: Der Göttinger Politikwissenschaftler Bassam Tibi mahnt die westlichen Gesellschaften, sich der Herausforderung durch den Islam zu stellen
Fabian Schmidt-Ahmad

Tritt man öffentlich auf und weist auf Gefahren hin, die mit der zunehmenden Dominanz des Islam in Deutschland verbunden sind, so kann man einen Vorwurf mit geradezu naturgesetzlicher Kausalität vorhersagen: den, man vertrete ein rückwärtsgewandtes, wenn nicht sogar rechtsextremistisches Gedankengut - kurzum ein Denken, mit dem sich der aufgeklärte, moderne Bürger erst gar nicht auseinandersetzt. Schief wird dieses bequeme Bild spätestens dann, wenn der Kritiker selbst gläubiger Muslim ist.

Dies trifft allerdings auf Bassam Tibi zu, Göttinger Professor für Internationale Beziehungen und bekannter Autor mehrerer Bücher zur "islamischen Herausforderung", so der Titel seines aktuellen Werkes, welches er jetzt im Berliner Veranstaltungszentrum Urania vorstellte. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn dieser - schon alleine durch diese Verbindung unbequeme - Kritiker von den öffentlichen Medien zunehmend ignoriert wird. "In den letzten Jahren ist es still um mich geworden", wie Tibi nüchtern feststellt: "Die Themen, über die ich schreibe, sind unerwünscht." Warum dies so ist, davon gewannen die Zuhörer des Bestseller-Autors einen kleinen Einblick. Mit Ironie widerlegte Tibi gängige Klischees diverser Feuilletonschreiber. Beispielsweise die Beschreibung der AKP, der herrschenden politischen Strömung in der Türkei, als "konservativ": "Ich bin nicht so dumm, daß ich glaube, daß diese Leute, eine ganze Generation, über Nacht entschieden haben, wir sind nicht mehr Islamisten, wir sind islamisch-konservativ."

Entsprechend ablehnend steht Tibi einem EU-Beitritt der Türkei gegenüber, wie er überhaupt die muslimische Einwanderung nach Europa mit Skepsis betrachtet. Betrug die Anzahl der Muslime vor 50 Jahren noch weniger als eine Million, so sind es derzeit rund zwanzig Millionen. "Im Jahr 2035 wird es in Europa ungefähr 50 Millionen Muslime geben."

Auch für den Sproß einer angesehenen Familie aus Damaskus, die ihre Wurzeln bis auf Mohammed zurückverfolgt, ist dies eine besorgniserregende Entwicklung. Denn die "Rückkehr des Sakralen", die Tibi weltweit ausmacht, äußert sich in einer politischen Einfärbung, die "nichts mit Religiosität" zu tun habe, aber auf die Politik selbst zurückwirkt. Es ist etwas radikal anderes, verdeutlichte Tibi, ob man beispielsweise die eigene Arbeitslosigkeit auf rationell beherrschbare Gründe zurückführe oder darauf, daß man als Muslim "diskriminiert" werde. Denn "über Glaubensbekenntnisse wird nicht diskutiert". Ein Gefühl für diesen Unterschied ist jedoch dem säkularen Europa, namentlich der deutschen Gesellschaft, abhanden gekommen. "Religiösen Analphabetismus" nennt Tibi dieses Phänomen, welches mit verursacht, daß Europa die islamische Herausforderung weitestgehend ignoriert. Statt dessen werde auf Lebenslügen zurückgegriffen wie beispielsweise die Behauptung, der Mörder des niederländischen Regisseurs und Islamkritikers Theo van Gogh sei ein Einzeltäter. Tatsächlich sei dieser aber in ein islamistisches Netzwerk eingebunden und habe ein rechtsgültiges Urteil nach der Scharia vollzogen, wie Tibi darlegte.

Doch sei dies nur eine Seite des Islam. Großes Gewicht legte Tibi auf dessen Eigenschaft, spezifische Überformungen einer lokalen Kultur auszubilden, die er auch im Koran legitimiert sieht: "Vielfalt ist gut und wird akzeptiert." Entsprechend schwebt ihm das Ideal eines "Euro-Islam" vor, der sich harmonisch in das europäische Wertesystem einfüge. Um dies zu ermöglichen, sei aber ein Entgegenkommen erforderlich.

So kritisierte Tibi Vorstellungen der CDU-Wertekommission, das Grundgesetz vor einem christlichen Hintergrund sehen zu wollen: "Das Grundgesetz hat mit dem Christentum nichts zu tun, das ist säkular." Würde man dies weiterhin behaupten, so sei das Grundgesetz für die in Deutschland lebenden Muslime nicht zu vermitteln. Allerdings stellt sich die Frage, inwieweit Bassam Tibi mit dieser Einschätzung nicht selbst "religiös analphabetisch" ist und dadurch Wesentliches in der deutschen Gesellschaft übersieht. Denn wie soll man beispielsweise den ersten Artikel des Grundgesetzes ("Die Würde des Menschen ist unantastbar") wirklich verstehen können, wenn man ihn nicht mit dem Wesen Christi in Beziehung setzt?

Will der Islam also tatsächlich in Deutschland heimisch werden, so genügt nicht der Verweis auf die Religion als Privatsache. Es ist für ihn dann schlechterdings unumgänglich, auch auf religiöser Ebene eine Verbindung zu dem zu suchen, was als lebendige Kraft - zwar derzeit noch unbewußt, nichtdestotrotz wirkmächtig - den Geist Europas ausmacht. 

Bassam Tibi: Die islamische Herausforderung. Religion und Politik im Europa des 21. Jahrhunderts, Primus Verlag, Darmstadt 2007, gebunden, 182 Seiten, 24,90 Euro

Foto: Bassam Tibi: Mohammeds Erbe


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