© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/07 12. Oktober 2007

Über allem strahlt der Dirigent
Eberhard Straubs Gesellschaftsstudie über die bürgerliche Familie Furtwängler
Wiebke Dethlefs

Geschichte einer deutschen Familie" nennt Eberhard Straub, langjähriger Feuilletonredakteur der FAZ, im Untertitel sein Buch. Die Furtwänglers sind bisher nirgendwo als Ganzes rezipiert worden. Anders als beispielsweise bei den Manns oder beim Wagner-Clan werden die einzelnen Familienglieder im öffentlichen Bewußtsein keineswegs als zusammengehörend betrachtet. Das hängt einesteils damit zusammen, daß innerhalb eines Zeitabschnittes immer nur ein Einzelner aus dieser Familie Bedeutendes leistete, und ist anderenteils damit begründet, daß diese jeweilige Bedeutung auf unterschiedlichen, wenngleich immer künstlerischen Terrains liegt. Doch alle Familienmitglieder verbindet ein "Drang nach schöpferischem Selbstausdruck in Kunst und Kultur".

Ein essayistisches Vorwort leitet das Werk ein. Das "deutsche Bürgertum" und seine Entwicklung in den letzten hundertfünfzig Jahren ist das Fundament, aus dem der Autor sein Buch erwachsen läßt. Straubs ungeheure klassische Belesenheit, die sich in unzähligen Zitaten widerspiegelt, läßt ihn selbst als einen der letzten Vertreter des lange verblaßten Bildungsbürgertums erkennen. Doch ein neues "Heimweh nach Bürgerlichkeit" zeigt sich nach Straubs Ansicht bei der jungen Generation. Jenes Heimweh äußert sich in einem nicht ganz neuen "Willen zum Schönen", denn "als Erfolgreicher darf man nicht unfein wirken".

Dieser Wunsch, sich dem "Guten, Wahren und Schönen" anzunähern, kennzeichnet das Bürgertum der vorletzten Jahrhundertwende. Die bürgerliche Welt strebte nach akademischen Weihen. Keineswegs nach den Naturwissenschaften, die antike, hellenische und römische Welt geriet zum Ideal, ergänzt durch die edelste aller Künste, die Musik. Straub nähert sich auf der Basis dieser Gedankenwelt fünf Generationen der Familie Furtwängler. Philologie und Archäologie kennzeichnen die klassische Ästhetik der ersten beiden Generationen, Musik in Komposition und Interpretation charakterisieren in Wilhelm die dritte Generation, wohingegen die vierte und fünfte in Theater und Film ihre bürgerliche Ästhetik finden. In dieser durchgehenden Folge der Ästhetik ebenjenes "schöpferischen Selbstausdrucks" zeigt Straub die Kontinuität des traditionellen Bürgertums der Familie Furtwängler auf.

Zweifellos ist Wilhelm Furtwängler (1886-1954), der vielleicht großartigste deutsche Dirigent des 20. Jahrhunderts, die herausragende Erscheinung dieser Familie. Es liegt auf der Hand, daß er deshalb einen zentralen Raum in Straubs Darstellung einnimmt. Der Darstellung des großen Musikers gehen Schilderungen dessen gleichnamigen Großvaters (1809-1875) und seines Vaters Adolf Furtwängler (1853-1907) voraus. Wilhelm des Älteren Lebensweg vom viehhütenden Bauernjungen zum anerkannten Altphilologen mutet wie ein klassischer Bildungsroman an. Adolf Furtwängler ist ein noch heute bekannter und anerkannter Archäologe, der erstmals Kataloge der Berliner archäologischen Sammlungen herausgab und insbesondere mit seinem Buch "Meisterwerke griechischer Plastik" ein Standardwerk schuf. Straub vergißt auch nicht, ein Bild der jeweiligen Ehefrauen zu geben. Auf diese Weise entsteht im ersten Teil des Buches ein chronikartiger, wenn auch etwas kurz geratener Abriß des deutschen Bürgertums in der Zeit zwischen 1850 und 1910.

Dem Titel mag es nicht zum Vorteil gereichen, daß Straub die Kapitel über den Dirigenten Furtwängler sehr breit ausführte. Unzweifelhaft ist jedoch, daß die Vorgänge im "Fall Hindemith" - und Furtwänglers Lancieren im Fall seines berühmten Briefes an Goebbels vom 7. März 1933, in dem er fordert, daß in Deutschland weiterhin "Männer wie Bruno Walter, Otto Klemperer oder Max Reinhardt mit ihrer Kunst zu Worte kommen können" - zu den erregendsten Ereignissen der Kunstpolitik des 20. Jahrhunderts zählen. Straub wartet mit neuen Gesichtspunkten auf, warum der Dirigent Deutschland nicht verlassen hat. Der "Womanizer" Furtwängler hatte zahlreiche außereheliche Kinder, für die und deren Mütter sowie auch für seine eigene Mutter er zu sorgen hatte. Vom Ausland aus, als Exilant, wäre es ihm nie möglich gewesen, da er beispielsweise auf seine deutschen Konten nicht mehr hätte zugreifen können.

Nicht ganz überzeugend wird Straub in seiner Darstellung der künstlerisch-menschlichen Ambivalenz Wilhelm Furtwänglers gerecht. Denn der Dirigent wird einesteils als karrieresüchtiger Opportunist dargestellt, insbesondere im Rahmen des Konflikts mit Toscanini anläßlich der Bayreuther Festspiele 1931, auf der anderen Seite ist er natürlich ein feingeistiger Ästhet, der letztlich unpolitisch bleiben will ("Wir Künstler müssen uns aus der Politik heraushalten"), was ihm aber in seiner gesellschaftlichen und künstlerischen Position während des Dritten Reiches nicht gelingen konnte. Straub bemüht sich um "kritische Distanz" zu Furtwängler, versucht ihn vordergründig zu demontieren, ist aber so unüberhörbar "Furtwänglerianer", daß er gute zwanzig Prozent des Buchumfangs Wilhelms Entnazifizierung und seiner Nachkriegskarriere widmet. Für Straub geriet Furtwängler nur deshalb ins politische Zwielicht, weil sein Begriff von "Heimat" nur eine Idee war, nämlich die deutsche Musik. Deshalb konnte und wollte er nicht emigrieren. Des Dirigenten seit seinem Tode ständig gewachsener Nachruhm konnte nur entstehen, "weil er, fest in der Tradition stehend, noch einmal an (...) Form und Schönheit erinnerte", wie sie das verstörte Publikum der Nachkriegsjahre verlangte.

Nur wenige Seiten widmet Straub der jüngeren Generation. Florian Furtwängler (1938-1992), Sohn von Wilhelms Bruder Walther, war ein genialischer, fast zügelloser Filmemacher und Kunsthistoriker. Walther Furtwängler zählte als "Privatier" zu den weniger bedeutenden Familienmitgliedern. Florians Bruder Bernhard ist Vater von Maria Furtwängler (geboren 1966), die sich in den letzten Jahren als Charakterdarstellerin einen Namen machte. Unvergessen ist sie vor allem als ostpreußische Adelige in dem Fernseh-Zweiteiler "Die Flucht", der Anfang 2007 gesendet wurde. Vor kurzem wurde sie mit dem Bayerischen Verdienstorden und dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. Maria Furtwängler ist gleichzeitig Wilhelms Großnichte wie auch seine Stiefenkelin. Denn Kathrin Ackermann, Marias Mutter, ist auch die Tochter von Wilhelms Ehefrau Elisabeth aus erster Ehe. Lange Jahre war sie Mitglied des Münchner Residenztheaters. Ihre Mutter Elisabeth, seit 53 Jahren (!) Wilhelm Furtwänglers Witwe, wird leider im Rahmen von Straubs Buch nicht einmal erwähnt - im Gegensatz zu den Ehefrauen der ersten und zweiten Generation. Welche Wirkung hatte sie auf ihren Mann innerhalb seiner letzten zehn Lebensjahre, eine Zeit, in der Wilhelm seine zweite und dritte Symphonie schuf? Gerne hätte man mehr darüber erfahren, zumal Straub Wilhelm ins Zentrum seines Buches gesetzt hat.

Daß Straub das Bild des großen Dirigenten Wilhelm Furtwängler durch einige neue Nuancen ergänzt, versöhnt den Leser wiederum, den diese unterlassenen Petitessen in seinem Sittengemälde stören könnten.

Eberhard Straub: Die Furtwänglers. Geschichte einer deutschen Familie. Siedler Verlag, München 2007, gebunden, 350 Seiten, 24,95 Euro

Fassade eines Wohnhauses in Barcelona, gestaltet von dem Architekten Antoni Gaudí


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