© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/07 21. September 2007

Symbol der nationalen Wiedergeburt
Götter- und Dämonenwelten: Zum fünfzigsten Todestag des finnischen Komponisten Jean Sibelius
Wiebke Dethlefs

Als Jean Sibelius am 20. September vor 50 Jahren im biblischen Alter von 92 Jahren starb, ging mit ihm der wahrhaft letzte Vertreter der europäischen musikalischen Spätromantik dahin. Wie Edvard Grieg (JF 36/07) Weltbürger der Musik und gleichzeitig norwegischer Patriot war, so war Sibelius als finnischer Patriot gleichzeitig ein Komponist internationalen Ranges, aber auch der einzige finnische Komponist, der außerhalb seines Landes bekannt wurde.

Sibelius schrieb eine Oper, die bedeutungslos ist, ebenso ist seine Klaviermusik zweitrangig. Schwerer wiegt seine Liedlyrik. Das Streichquartett "Voces intimae" ist neben jenem von Hugo Wolf das bedeutendste der Spätromantik im 20. Jahrhundert. Doch Weltruf erlangte Sibelius mit seinen Orchesterkompositionen, deren farbiger und ungemein differenzierter Instrumentalklang die eigentümlich herbe Naturschönheit seiner Heimat widerspiegelt.

 In den sieben Symphonien absoluter Musiker, baut er in anderen Orchesterwerken programmatisch auf der phantastischen Götter- und Dämonenwelt der finnischen Mythologie auf. Aus dem Nationalepos "Kalevala", das Elias Lönnrot 1849 aus finnischen Volksgesängen zusammenstellte, entlehnt Sibelius die blutvollen Handlungen seiner symphonischen Dichtungen. Der Komponist erzählt in diesen unter anderem von dem Helden Lemminkäinen, einer Art finnischem Siegfried, und seinen Begegnungen in der Totenwelt (unter anderem in "Der Schwan von Tuonela"), berichtet wird von Tapio, dem Gott des Waldes (Tapiola), und in "Pohjolas Tochter" schildert Sibelius die Fahrt des blinden Barden Väinämöinen in das unwirtliche Nordland Pohjola und die schöne Tochter der Landesherrin Louhi.

 Der Rhythmus der finnischen Volksgesänge und -lieder ist die sogenannte Runenmelodie, deren monotoner, engschrittiger Duktus sich oft in der Themenerfindung des Komponisten widerspiegelt, dies besonders eindrucksvoll im zweiten Thema des Scherzos der Zweiten Symphonie. Des weiteren war für die musikalische Welt Sibelius' das Grenzlanddasein seiner Heimat zwischen Schweden und Rußland prägend, insbesondere die geschichtliche Entwicklung in den letzten Jahrzehnten vor 1900. Finnland als eigenständige Nation und daneben Land und  Schicksal der Karelier, jenem Volk an der Grenze zu Rußland, lagen dem Komponisten dabei persönlich besonders am Herzen. Die melodiöse "Karelia-Suite", op. 11 und das den Freiheitskampf der Finnen schildernde symphonische Gedicht "Finlandia", op. 26 Nr. 7, 1899 als Schlußteil einer patriotischen musikalischen Soirée erstaufgeführt, machten den Komponisten zu einem Symbol der nationalen Wiedergeburt des Landes. Kein Wunder ist es auch, daß das damalige zaristische Regime die Aufführung der "Finlandia" zeitweilig verbot, da sie um die aufwühlende Wirkung des emphatischen, hymnisch-sieghaft endenden Tongedichts wußte. Bezeichnend, daß die Karelia-Suite und Finlandia weltweit zu den meistgespielten Orchesterschöpfungen aus Sibelius' Feder avancierten.

 Aus dem National-Persönlichen konnte sich Sibelius' Kunst somit zum Allgemeingültig-Überpersönlichen, und damit zum Übernationalen entwickeln.

Jean Sibelius gilt als finnischer "Nationalkomponist", verwendete jedoch anders als Grieg niemals folkloristische Motive. Seine Tonsprache ist in seinen Frühwerken am ehesten jener Tschaikowskys vergleichbar, sein späteres Schaffen findet stilistisch-formal kaum eine Parallele bei den Zeitgenossen. Es gibt impressionistische Anklänge, und es gibt (seltene) Passagen eines Expressionismus reiner Atonalität (Vorspiel zu "Der Sturm, op. 109). So fand er auch keine Nachfolger und hat genaugenommen damit keinerlei Einfluß auf die Musik seiner Zeit ausgeübt. Er ist ein Neuerer nach den Gesetzen seines eigenen Wesens.

1929, als 64jähriger, beendete er sein kompositorisches Schaffen. In den knapp dreißig Jahren, die ihm noch beschieden waren, schuf er neben wenigen Überarbeitungen älterer Werke nichts neues mehr. Einige kleine Stücke für Violine und Klavier op. 115 und 116 sind seine letzten Schöpfungen. Eine fertiggestellte achte Symphonie verbrannte der Komponist 1943 vermutlich aus quälender Selbstkritik während einer depressiven Phase. Ein einziges Blatt dieser Partitur entging dem Feuer.

Orchesterschaffen von Jean Sibelius gehört weitenteils zum Repertoire der großen Orchester der Welt. Trotzdem gibt es noch Unbekanntes von diesem Komponisten zu entdecken. Einige Hörtips abseits dieses Repertoires: das priesterlich-erhabene "Andante festivo" für Streichorchester, die "Kullervo"-Symphonie op. 7, ein großangelegtes Werk für Soli, Chor und Orchester, Sibelius' erste Begegnung mit der "Kalevala", und das späte Chorwerk "Oma maa", op. 92 (Mein Heimatland), das der Komponist selbst als Hymne "an die Natur und die hellen Nächte Finnlands" bezeichnete.

Foto: Jean Sibelius (1865-1957), Szenenfoto aus dem Kurzfilm "Jean Sibelius zu Hause" (1927): Geboren in der nördlich von Helsinki gelegenen Provinzhauptstadt Hämeenlinna, studierte Sibelius unter anderem bei dem in Deutschland ausgebildeten Martin Wegelius, der 1882 das Musikinstitut in Helsinki gegründet hatte. Von 1889 bis 1891 studierte Sibelius auch in Berlin bei Albert Becker sowie in Wien bei Karl Goldmark und Robert Fuchs. Zurück in seiner Heimat, unterrichtete Sibelius ab 1892 zunächst in Helsinki als Musiklehrer an der Universität, bevor er sich als freischaffender Komponist etablieren konnte. Er starb 1957 in Järvenpää bei Helsinki.


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