© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/07 21. September 2007

Ökonomisch verengt
"Blue Card": Europas äußere Schwäche spiegelt seinen inneren Zustand
Thorsten Hinz

Es ist vernünftig, daß die EU-Kommission sich Gedanken über eine gemeinsame europäische Zuwanderungspolitik macht. Im engen, kleinteiligen, von grünen Grenzen strukturierten Europa können einzelstaatliche Regelungen den Zuwanderungsdruck nicht bewältigen. Neben diesem inneren gibt es einen externen Grund. Die europäischen Länder haben nur als gemeinsamer Großraum eine Chance, mit den anderen globalen Großräumen zu konkurrieren. Dazu gehört, einer ungünstigen Altersstruktur entgegenzuwirken, auch durch qualifizierte und integrationswillige Einwanderer.

Nun schlägt EU-Kommissar Franco Frattini eine "Blue Card" zur Aufnahme von 20 Millionen Arbeitssuchenden aus Afrika und Asien in den kommenden 20 Jahren vor. Frattini will die Überalterung Europas stoppen, seinen Mangel an Facharbeiter- und Hochqualifizierten ausgleichen und zugleich die illegale Zuwanderung eindämmen. Der letzte Punkt ist der absurdeste seines Plans. Schließlich sind es keine Computerspezialisten und Ingenieure, die sich illegal Zugang nach Europa verschaffen. Wenn es gelänge, sie herzulocken, würde das die Zwanderung von Unqualifizierten um keinen Deut verringern. Zweitens ist schleierhaft, wo in Afrika sich das überquellende Expertenreservoir befindet. Das Einkommenslimit der Zielgruppe soll - wie es vage heißt - "deutlich" über dem Mindesteinkommen liegen. Das ist aber nicht das Lohnsegment der technischen Elite, die der Plan doch angeblich im Blick hat. Er zielt wohl eher auf Billigarbeiter, die den heimischen Arbeitsmarkt noch mehr unter Druck setzen. Frattinis Vorschlag, die Zuwanderer den Einheimischen sozial gleichzustellen, würde eine neue Scheinbeschäftigungs- und Einwanderungsindustrie etablieren. Ein Zuwachs der Bevölkerung durch potentielle Empfänger von Sozialtransfers wird die alternden Gesellschaften zwar statistisch verjüngen, ihre Probleme aber verschlimmern.

Was neben der handwerklichen Schlamperei bestürzt, ist die Verengung auf die ökonomische Perspektive. Sie ist typisch für die Brüsseler Europa-Politik. Welche Vorstellung haben die Eurokraten von der politischen, geistigen, kulturellen Zukunft des Kontinents? Europa ist der reale und der geschichtliche Lebensraum der Europäer - und soll es doch wohl bleiben? Brüssel scheint von einer zweifelhaften Elite beherrscht, die trunken ist von einem Gebräu aus humanitaristischen, transnationalen und universalistischen Versatzstücken, die sie weder in eine stringente Theorie noch in eine politische Strategie übersetzen kann. Ihre Waffe ist daher die moralische Besserwisserei. Während Frattini von der "Bereicherung" durch Zuwanderung schwadroniert, dankt der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im EU-Parlament, Martin Schulz, dem Brüsseler Bürgermeister für das Verbot der Anti-Islamisierungs-Demonstration am 11. September. Er sei "überzeugt", so Schulz, daß zur Demonstration aus "dunklen rassistischen und fremdenfeindlichen Gründen" aufgerufen worden sei. Unter normalen Umständen wären einem die Überzeugungen des früheren Kommunalpolitikers Schulz völlig egal, doch er repräsentiert nun mal die europäische Politik. Da Schulz, Frattini und Genossen zur geistigen Führung unfähig sind, stellt sich die Frage: Von wem werden sie eigentlich vorgeführt?

Zur politischen und geistigen Führung müßte gehören, die Einwanderungspolitik entlang ihrer Kulturverträglichkeit zu gestalten. Weil das europäische Zeitalter in der Welt unwiderruflich vorbei ist, kann die Selbstbehauptung Europas nur in Kooperation mit den kulturell nächststehenden Großräumen, also mit Nordamerika und Rußland, gelingen. In den USA, wo "die angloprotestantische Kultur (...) drei Jahrhunderte den Kern der amerikanischen Identität" bildete, wird, wie Samuel Huntington in seinem neuen Buch darstellt, die Schmelztiegel-Praxis durch ethnische Fragmentierung und insbesondere durch eine Hispanisierung abgelöst. Rußland ist bei negativer Bevölkerungsbilanz einem starken Druck aus Mittel- und Ostasien ausgesetzt. Das Riesenreich ständig zu kränken, indem man es an Demokratie- und Menschenrechtsidealen mißt, die die EU selber nicht erfüllt, ist nicht nur verlogen, es ist ein strategischer Fehler.

Dabei darf sich Europa weder von Auswanderungsregionen noch von den beiden strategischen Partnern auseinanderdividieren lassen. Aus der Sicht der USA besteht seine Funktion vor allem darin, ein Überlaufbecken für den Überschuß an zornigen jungen Männern der muslimischen und afrikanischen Welt zu bilden. Das ist ein amerikanisches Interesse, kein europäisches.

Die externe strategische Schwäche Europas ist die Kehrseite seines inneren Zustandes. Was sollte einen exzellenten indischen Ingenieur bewegen, nach Deutschland zu kommen, wo er 50 Prozent seines Bruttoeinkommens zur Finanzierung eines wuchernden Sozialstaats abgeben muß, wo "Besserverdienender" ein Schimpfwort ist und seine vielleicht gleichfalls hochbegabten Kinder eine postsozialistische Einheits- und Ganztagsschule besuchen müßten, deren Klassen vom bildungsunfähigen Prekariat dominiert wird? Erst wenn im Innern eine europäische Wertehierarchie wiederhergestellt ist, läßt diese sich nach außen überzeugend vertreten.


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