© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/07 31. August 2007

Nur die Frauen werden alt
San Luca kennt keine Idylle: Besichtigung eines Tatorts im Mezzogiorno
Paola Bernardi

Nur 2.200 Kilometer liegen zwischen Duisburg und San Luca, dem kleinen Bergort in Kalabrien. Doch in Wahrheit sind es Welten und Jahrhunderte. Der grausame sechsfache Fehdemord von Duisburg bringt San Luca erneut ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, denn sowohl die meisten Opfer als auch die Täter stammen aus diesem Ort. Zum ersten Mal sind die Killer des Mordkommandos der N'drangheta - die kalabresische Variante der süditalienischen Mafia -, die das Massaker anrichteten, auch außerhalb Italiens aktiv geworden.

San Luca wirkt aus der Ferne, wenn am Abend die Lichter aufschimmern, wie ein Krippendorf, doch die Wirklichkeit liegt fern von jeder Idylle. Der Ort schmiegt sich an die Felsen des Aspromonte, jenes "Bergs ohne Grenzen" wie ihn die Carabinieri fluchend nennen: ein Bergzug mit unzähligen Schluchten und Hängen, Höhlen und stillgelegten Flußbetten. Niedrige Häuser, umgeben von Mauern aus Felssteinen kleben wie Festungen am Hang: Häuser grau wie nicht geputztes Silber mit Dächern aus gebrannten Ziegeln. Unten im neueren Teil entstanden häßliche Neubauten, manche noch unverputzt.

San Luca im Mezzogiorno, in Kalabrien, dem vergessenen Landstrich Italiens. Dabei ist die Landschaft idyllisch in dieser bergigen Gegend mit den fruchtbaren Ebenen, und nur zehn Kilometer entfernt schäumen die Wellen des Ionischen Meeres gegen den weißen Sandstrand.

Doch die Bewohner dieses Landstrichs scheinen weder von der Schönheit noch von der Fruchtbarkeit ihrer Landschaft beeindruckt - denn dieses Bergnest mit 4.500 Einwohnern macht seit Jahrzehnten Negativschlagzeilen. Hier arbeitet die Anonima sequestri - die "Entführungs-AG". Fast alle Entführungen in Italien werden traditionell von der N'drangheta an diesem Ort organisiert. Hierher werden seit jeher die Opfer gebracht, in erdigen Verließen im Gebirge oder am Ort selber mit einem Eisen um den Hals festgekettet. Mitunter jahrelang, wie 1988 der 20jährige Sohn eines Unternehmers aus Pavia: Zwei Jahre wurde er an diesem Ort wie ein Hund gehalten.

Im Laufe des letzten Jahrzehnts sind freilich auch die hiesigen kalabresischen Mafiabosse mit der Zeit gegangen, sind nun auch verstärkt im Drogenhandel und in der Geldwäsche mit Milliarden Euro Umsatz tätig. Die N'drangheta ist heute auf der ganzen Welt zu Hause, überall dort nämlich, wohin Menschen aus Kalabrien auswanderten. Durch diese Region wird heute vor allem kolumbianisches Kokain nach Europa geschmuggelt.

Die N'drangheta ist im Vergleich zur sizilianischen Mafia und der Camorra um Neapel noch roher und grausamer, so Staatsanwalt Nicola Gratteri aus Reggio Calabria. Für die italienische Justiz gilt San Luca immer noch als das "Trainingslager" der N'drangheta. Es ist "der Ort, in dem keine Fliege frei fliegt", so ein Carabiniere.

Hier am Brunnen in der Ortsmitte auf der Piazza Dante Alighieri kettete sich im Sommer 1989 die Mutter des entführten jungen Mannes Cesare Casella öffentlich an und appellierte an das Mitgefühl der Bewohner dieses Ortes, ihr zu helfen. Doch die Menschen in San Luca schweigen, bleiben stumm, pressen die Lippen aufeinander. Sie schweigen hartnäckig und steinern.

Immer wieder versuchen Außenstehende, dieses "schuldige" Schweigen der Menschen von San Luca zu erklären. Diese Verschwörung sei keine Solidarität mit Mafiosi, sei vielmehr begründet in der Angst vor dem Ausschluß aus der Dorfgemeinschaft. Außerdem habe hier niemand mehr Vertrauen in den Staat, denn der habe in diesem Landstrich gänzlich versagt, deshalb herrsche nur Resignation.

Wie eine schwere Glocke hängt die Stille über diesem Ort, eine unheimliche Stille, die sich auf alles senkt und sich jedem Fremden einprägt, der San Luca besucht: eine Lautlosigkeit von Schrecken, Furcht und Gegnerschaft. Der Ort scheint wie ausgestorben, "hier leben die Lebenden wie die Toten", so Don Strangio, der Pfarrer von San Luca, auch er einer aus der mächtigen Mafia-Sippe.

Betritt man als Fremde die Bar am Ort, so stehen die wenigen alten Männer still auf und gehen. Fremde bleiben hier unerwünscht. Geht man die Straße hinunter, klappen die Holzläden der Fenster demonstrativ zu. Dennoch spürt man die Blicke, die einen ständig beobachten. Nur Hunde kläffen und Hühner gackern, die in Kellern gehalten werden. Ab und zu unterbricht das Aufheulen des Jeeps der Carabinieri, die hier ihre Runde mit schußbereitem Gewehr auf den Knien drehen, diese seltsame Ortsstille.

San Luca ist kein Ort wie die anderen. Schon die von Munition völlig durchsiebten Schilder an den Bushaltestellen zeugen von den fleißigen Schießübungen der Bewohner: Geschosse, daumengroß, die aus abgesägten Flinten stammen.

Männer sieht man kaum im Ort, und die Frauen, denen man auf der Straße begegnet, tragen alle Schwarz um die versteinerten Hüften und Kopftücher, die sie mit Zähnen gegen den Wind festhalten, der hier ständig vom Meer her weht. Alle sind Witwen und trauern, denn alle trauern hier um irgend jemanden. In diesem Ort sind alle miteinander versippt, verschwägert, und jeder weiß alles über jeden. Allen voran steht der mächtige Clan der Strangios, der auch in die Duisburger Morde verwickelt ist.

"Sie haben nichts anderes in ihrem Leben gesehen als Trauer und Gewalt", so die kalabresische Senatorin Rosa Calipari über die Frauen von San Luca. Bischof Bregantini von Locri appelliert an die Frauen dieser Region, es stehe in ihrer Macht, zu verzeihen und dem Morden ein Ende zu bereiten.

Doch selbst aus Duisburg klingt der Racheschwur von Maria Carlino, der Mutter, die bei dem Gemetzel zwei Söhne - den 22jährigen Francesco und den 20jährigen Marco - verloren hat. "Ich werde nie verzeihen, seit jenem 15. August hat sich in meinem Herzen die Hölle aufgetan", so die verzweifelte Mutter vor laufenden Kameras. Und so wird das Morden weitergehen. Die Frage nach Schuld und Sühne stellt hier niemand - nur Rache ist das Gebot der Stunde.

Schon 1985 klagte ein Untersuchungsrichter: "Wir hätten den ganzen Ort verhaften müssen." Immer wieder werden Razzien durchgeführt, immer wieder wird der Aspromonte "vom Himmel, von der Erde und vom Meer angegriffen", wie Justizsprecher großmundig verkünden. Doch alle Einsätze enden immer ergebnislos. Und die Bewohner schweigen weiterhin beharrlich, fühlen sich als Opfer der Gesellschaft.

Auf dem kleinen Bergfriedhof von San Luca werden auf felsigen Erdgrund die Särge von Sarkophagen aus Zement umschlossen. Hierher kommen die Toten immer wieder zurück. Geht man durch die Grabreihen, liest man: geboren in San Luca, gestorben in San Luca. Geboren, gestorben, begraben am gleichen Ort! Das Durchschnittsalter der hier begrabenen Männer beträgt 35 Jahre. Nur die Frauen werden alt in San Luca.

Auf dem Dorfplatz dreht der Jeep der Carabinieri wieder seine obligatorischen Runde. Wer wird der nächste sein, der im Ort oder aus dem Ort erschossen wird?

Foto: Trauergäste tragen am 23. August den Sarg eines Opfers der Schießerei von Duisburg aus der Kirche Santa Maria della Pietà in San Luca: Nach Schuld und Sühne fragt hier niemand


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