© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/07 31. August 2007

Pankraz,
H. Lemke und das moralische Gastmahl

Darauf hat man warten können. Das Heer der Fernsehköche und Kochbuchverfasser war schon lange begierig, als Erzieher der Nation voll anerkannt zu werden und in ihre intellektuelle Elite eingereiht zu werden. Jetzt ist es endlich so weit. Der Hamburger Philosoph Harald Lemke hat auf überzeugende Weise den Ritterschlag erteilt, mit dem monumentalen Werk "Ethik des Essens. Eine Einführung in die Gastrosophie", das soeben im Berliner Akademie Verlag erschienen ist (468 Seiten 39,80 Euro).

Die Erhebung in den Adelsstand betrifft nicht nur Köche, sondern Essensbereiter insgesamt, Kantinenchefs, Restaurantbesitzer, Speisekarten-Zusammensteller. Sie alle, so lesen wir, stillen nicht nur ein natürliches Bedürfnis, kitzeln nicht nur den Gaumen und andere Sinne, sondern sie stiften Kultur und die Grundlagen jedes menschlichen Zusammenlebens überhaupt. Nicht die Produktionsverhältnisse sind das Primäre, wie Karl Marx lehrte, sondern die Eßverhältnisse. "Leben ist Essen und Gegessenwerden", dozierte schon Ludwig Feuerbach, für dessen unmittelbaren Schüler und Fortsetzer sich Lemke hält.

Er hat etwas gegen den aus dem indischen Yoga und aus der modernen Medizin stammenden "diätmoralischen Zug" in der aktuellen Eßdiskussion, opponiert freilich auch gegen "platten Hedonismus". Sicher, wir sollen gesund essen, und wir sollen nicht in geistlose Genußmentalität verfallen, das ist für den wahren Gastrosophen die pure Selbstverständlichkeit. Aber sein eigentliches Feld beginnt jenseits von Diäthuberei und blinder Völlerei. Seine Rezepte umfassen nicht nur die Zubereitung der Speisen selbst, sondern auch und fast noch mehr die Zubereitung der Speisesituation.

In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt "das Mahl". Jedes Mahl, jede Mahl-"Zeit", hat ihre eigenen Gesetze, Stile und Rücksichten, sei es das karge Mahl des Asketen in seiner stillen Klause, sei es das große kollektive Fest- oder Siegesmahl, sei es das intime Liebesmahl zu zweit. Es gibt prächtige historische Kapitel in dem Buch von Lemke, schöne Titel: "Das harte Brot stoischer Tugenden", "Von der Heiligkeit des abendlichen Mahls", "Zum Geständniszwang süßer Sünden". Allein schon dieser Kapitel wegen lohnt die Lektüre.

Einigermaßen problematisch wird es dagegen bei den systematisierenden, gleichsam dogmatischen Teilen des Buches. Harald Lemke offeriert sie als Ethik, eben als "Ethik des Essens", und das, findet Pankraz, führt zu Gewaltsamkeiten und auf falsche Fährten. Ist es wirklich notwendig, einen Sollenskatalog des richtigen Essens aufzustellen? Im abendländischen Moraldekalog kommt das Gebot "Du sollst so und so essen!" nicht vor. Und selbst die indischen Yoga-Regeln beanspruchen nicht den Rang eherner Gottesgebote, es sind eher ästhetische denn ethische Anweisungen.

Natürlichen haben Ästhetik und Ethik miteinander zu tun. Sich beim Essen, speziell in der Öffentlichkeit, nach geltenden Übereinkünften zu richten und möglichst anmutig zu benehmen, nicht zu rülpsen und nicht die Kartoffeln mit dem Messer zu schneiden, ist eine Frage des Anstands, hat also auch eine moralisch-ethische Seite. Aber das volle Gewicht ethischer Relevanz hat es nicht. Strafen und Sanktionen gegen Eßsünder gibt es nicht, "noch nicht", muß man beim Blick auf die sich derzeit entwickelnden Verhältnisse freilich sagen.

Rauchverbote, Fahrverbote, "Flatrate"-Verbote jeglicher Observanz - wenn es so weitergeht, wird es wohl auch bald zu staatlich verordneten Eßverboten kommen. Der demokratische Zeitgeist ist auf Regulierung und "Ethisierung", vulgo: auf strenge Verbieterei auch noch der allerintimsten und allerharmlosesten Lebensvorgänge aus. Insofern könnte Lemkes an sich so sympathisches Buch eine unheilvolle Vorreiterrolle spielen. Haben die Politiker erst einmal davon Wind gekriegt, daß jetzt habilitierte Philosophen eine "Ethik des Essens" deklarieren, werden sie wohl bald mit ihren volksgesundheitlichen Gesetzesvorlagen anrücken.

Auch dem Essen wohnt ja, wie dem Alkoholtrinken, wie dem Drogeneinnehmen, eine wild-orgiastische Komponente inne, die die Gutmenschen fast automatisch auf den Plan ruft und zu "Aktivitäten" treibt. Es ist letztlich jedoch verlorene Liebesmüh. Denn der Mensch ist ein Teil des Lebens, und Leben ist - siehe Feuerbach/Lemke - nicht nur Essen, sondern auch und im selben Takt Gegessenwerden. Leben und Tod sind untrennbar ineinander verstrickt, und die Esser wissen das. Sie wissen im Grunde ihres Herzens, daß sie aller Eßkultur und aller Gastrosophie zum Trotz ganz gewöhnliche Fresser sind, wie der letzte Regenwurm, wie die letzte Hyäne am Aas.

Nicht daß er ißt, frißt, macht den Menschen zum Menschen, sondern daß er der Einheit von Fressen und Gefressenwerden gewahr wird - und daß er darunter leidet. Dies faktisch zu ignorieren, ist die Achillesferse an dem Buch von Harald Lemke. Es gibt darin zwar ein Kapitel "Das wilde Tier in uns", aber sonderlich wild ist das Tier dort nicht. Es weiß gar nicht, daß es als Lebewesen eine Tötemaschine ist, und es weiß vorab, wie man der Wildheit entkommen kann: indem man "vom Rohen zum Gekochten" (Lévi-Strauss) übergeht, vom Essen zur Eßkultur, von der bloßen Diätmoral zur kritischen Gastrosophie.

Pankraz seinerseits hält es doch lieber mit Sokrates, der gesagt hat: "Wir leben nicht, um zu essen, sondern wir essen, um zu leben." Laut Lemke ist dieser Ausspruch dem Sokrates von Platon in den Mund geschoben worden. Platon sei ein hoffnungsloser Idealist gewesen, der sich nicht fürs Essen interessierte; in seinem berühmten Werk "Das Liebesmahl" (Symposion) werde nicht einmal mitgeteilt, was genau es zu essen gegeben hat. Hätte Sokrates selbst das Symposion geschrieben, wäre mit Sicherheit zuerst die Speisekarte mitgeteilt worden.

Wer's glaubt, wird nicht selig. Der Mensch ist und bleibt ein transzendentes Tier, und die Ethik kommt aus der Transzendenz. Damit sei übrigens nichts gegen gutes Essen gesagt.


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