© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/07 31. August 2007

Das ganz normale Leben
Reportage: Die Bürger im sächsischen Mügeln suchen einen Weg zurück in den Alltag und rechnen mit den Medien ab
Christian Dorn

Eine Woche nach der "rassistischen Hetzjagd" durch die sächsische Kleinstadt Mügeln präsentiert sich der Marktplatz, auf dem das Zelt des 12. Altstadtfestes gestanden hatte, im goldenen Sonnenlicht.

Am vergangenen Wochenende kam es hier zu der Auseinandersetzung zwischen Einheimischen und den acht Indern, die sich anschließend als Opfer eines 50köpfigen fremdenfeindlichen Mobs präsentierten. Dieser, so berichteten die Medien nicht nur in Deutschland, sondern in aller Welt, habe die Inder durch die Stadt gejagt, bis sich diese in der Pizzeria eines Landsmannes in Sicherheit gebracht hätten. Dort seien sie von der fremdenfeindlichen Meute eingekesselt und erst von der Polizei gerettet worden.

Wer die Einwohner Mügelns fragt, was denn nun genau vorgefallen sei, erntet zunächst ein Kopfschütteln und meist eine Abwehrreaktion. "Die Medien schreiben ja sowieso, was sie wollen", sagt ein Mann. Der einzige Hinweis, der sofort gegeben wird, ist der Verweis auf den berüchtigten Zufluchtsort. Denn die Pizzeria "Picobello", in die sich die verfolgten Inder geflüchtet hatten, liegt nur knapp zwanzig Meter vom Marktplatz entfernt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Was tatsächlich in der Nacht des Altstadtfestes geschehen ist, läßt sich zwar nicht mit letzter Sicherheit feststellen, doch ergeben die Erzählungen der Mügelner, wenn sie sich dann doch auf eine Befragung einlassen, im wesentlichen das jeweils gleiche Bild. Und das ist zunächst jenes von den Indern.

So sind die "Schlüpperverkäufer", wie die Inder hier auch genannt werden, weil sie seit Jahren auf dem Wochenmarkt Kleidung verkaufen, wenigstens einem Teil der Mügelner in der Vergangenheit unangenehm aufgefallen. Großmutter, Tochter und Enkelin, die sich auf dem Marktplatz vom Einkaufen erholen, berichten von Provokationen: Ständig würden junge Mädchen und Frauen von den Indern in schamloser Weise angemacht. Wenn man sich dies verbitte, kämen als Anwort nur Beschimpfungen, "Du deutsche Schlampe" oder ähnliches.

Das Bild, das sich von den Geschehnissen jenes Abends gewinnen läßt, wenn man sich unter den Bürgern der Stadt umhört, ist weit vielschichtiger als das von den Medien vermittelte: Die Inder, so ist zu hören, hätten im Festzelt Besucherinnen bedrängt und angemacht und auch nach mehrfachen Aufforderungen nicht damit aufgehört. Als sich die Freunde der Mädchen wehrten, sollen die Inder, offenbar in aggressiver Stimmung, zu diesem Zeitpunkt bereits ein Messer gezückt haben. Draußen dann, so auch die Darstellung der Polizei, sei es zu massiven Körperverletzungen gekommen. Die Inder, so die befragten Mügelner, hätten plötzlich Flaschen geköpft und mit den spitzen Flaschenhälsen wild um sich gestochen. Neben den acht malträtierten Indern und zwei Polizisten wurden auch vier Deutsche verletzt, laut Augenzeugen einer am Kopf, einer an der Schulter sowie ein weiterer an der Brust und einer im Unterleib. Einige berichten, daß die Inder unbedrängt hinüber in die Pizzeria gegangen seien, erst danach sei eine Handvoll Leute gefolgt. Übereinstimmend aber sagen alle, daß der "Mob" von fünfzig Festgästen völlig aus der Luft gegriffen sei; ein bis zwei Dutzend sind wohl wahrscheinlicher. Daß die Menschen vor der verriegelten Pizzeria die Inder zusammenschlagen wollten, glauben die wenigsten. Fremdenfeindliche Äußerungen wie die kolportierten "Deutschland den Deutschen!" und "Ausländer raus!" will niemand ausschließen. Keiner von den Befragten hat es aber mit eigenen Ohren gehört.

Statt dessen wissen viele aus eigenem Erleben davon zu berichten, wie die herbeigerufene Polizeieinheit die umstehende Menge brutal auseinandergetrieben habe. Wahllos sei Pfefferspray gegen Unbeteiligte eingesetzt worden, die Menschen seien geschubst und zu Boden getreten worden. Der Verweis, daß die Inder hier die eigentlichen Täter seien und ein Deutscher als erster schwer verletzt wurde, habe die Polizisten nicht interessiert. Wenig später stellte sich heraus, daß einer der acht Inder von der Polizei wegen eines Asylvergehens per Haftbefehl gesucht wurde, andere Medienberichte sprechen vom Vorwurf des Drogenhandels.

Ein anderer Passant befürchtet angesichts der Vorverurteilung Mügelns, daß "ganz im Gegenteil" die vermeintliche Fremdenfeindlichkeit womöglich als Trotzreaktion jetzt überhaupt erst entstehen könnte. Ein Gast in der Pension "Räuberkeller", die direkt am Marktplatz liegt, sagt: "Das ist eine Schande, was die Medien hier machen."

Die Medien, das ist an diesem Sonntag der Jugendsender "Jump" des MDR-Hörfunks. Er ist Organisator einer Veranstaltung im Hof des Schlosses Ruhethal. Der Jugendsender folgt einem Aufruf der vor zwei Jahren aus Bonn nach Mügeln zugewanderten Schloßherren, des Ehepaars Sonja und Jörg Nachtweide. Diese hatten einen "Aufschrei" verfaßt und in die Öffentlichkeit gebracht, in dem sie zwar die gewalttätige Eskalation und den offensichtlichen Fremdenhaß als "skandalös" bezeichnen. "Noch skandalöser" aber, so die Schloßherren, sei das Verhalten der Medien, die "das Symptom einer frustrierten Gesellschaft so aufbauschen, daß eine Kleinstadt in Sachsen als Nazi-Nest dasteht". Indem "entsprechenden Vorurteilen" zugespielt werde, merke keiner, daß dies "genauso diskriminierend ist wie die Motive rechtsradikaler Gewalt". Das Schreiben, welches einen Spagat zwischen politisch korrekter Selbstbezichtigung und Anklage gegen die mediale Hysterisierung wagt, führt an diesem Abend noch zu manchem Mißverständnis. Kurios ist dabei der telefonische Kontakt im Vorfeld des als "politische Demonstration" verkauften Schloßhof-Festes.

Bevor Schloßherr Nachtweide Auskunft gibt, erwartet er vom anrufenden Reporter als erstes eine Antwort auf die Anzahl der Grundfarben. Sodann wird gefragt: "Und wie viele Farben gibt es insgesamt?" - Auf die Entgegnung "unendlich viele." kommt ein entwaffnendes: "Sehen Sie! Und braun ist nur eine Farbe von ganz vielen - und es ist nicht einmal eine Grundfarbe."

Schwarz hingegen zählt zu den unbunten Grundfarben. Und sie zählt - am Dienstag der vergangenen Woche - in Mügeln etwa 200 Köpfe. In einer Spontan-Demonstration, deren Teilnehmer fast ausnahmslos vermummt sind, zieht der Schwarze Block der Antifa durch die Kleinstadt, in der es noch eine Ernst-Thälmann-Straße gibt. Es ist eine Einheitsfront gegen die Mügelner. An eine Hausfassade wird "DVU + NPD aufs Maul" gesprüht. Passanten, die skeptisch gucken, werden als Nazis tituliert. Frauen und Kinder am Straßenrand bekommen Böller und Plastikflaschen zu spüren, Schläge werden angedroht - und auch ausgeteilt. Polizei ist kaum zu sehen. Ein junger Mann, von der Antifa als vermeintlicher "Neonazi" identifiziert, wird plötzlich von vier vermummten Gestalten, die aus dem Block ausscheren, mit Knüppeln niedergeschlagen. Seinen Namen will er nicht nennen, statt dessen zeigt er das Hämatom auf seinem Arm, und kommentiert in einer Mischung aus Empörung und Ohnmacht: "Unmöglich, reden immer von 'Gesicht zeigen', und sind selber vermummt. Wenn man seine Meinung sagt, dann zeigt man auch sein Gesicht."

Derweil findet Bürgermeister Gotthard Deuse (FDP) sich an jenem Sonntag im Schloßhof auf einer Podiumsdiskussion des Rundfunksenders "Jump" mit dem Totalitarismusforscher Eckhard Jesse, dem - anstelle von Sachsens Ministerpräsidenten Georg Milbradt (CDU) erschienenen - Staatsminister Hermann Winkler, den Schloßherren, einem Vertreter der Gewerkschaft und dem Vertreter einer Anti-Rechts-Initiative wieder. Bevor Deuse zu Wort kommt, betont Staatsminister Winkler, daß ihm das ganze Medientheater noch heute Ärger bereite. Was mit Mügeln passiert sei, "tut mir bis heute weh, Herr Deuse!" Das Publikum klatscht. Winkler weiter: "Leute, die nicht wissen, wo Mügeln liegt, sollen einfach mal den Mund halten." Allerdings konzediert er ein allgemeines Gewaltproblem: "Die Hemmschwelle sinkt rasant."

Deutlich wird dies am selben Tag in der Pizzeria "Picobello", in die sich die Inder geflüchtet hatten. Ein Mädchen, befragt nach dem Schlägertrupp des Schwarzen Blocks, findet es ganz in Ordnung, daß der "rechte" Jugendliche überfallen wurde: "Der hatte das einfach verdient." Weiter begründen kann sie es allerdings nicht. Auf dem Podium kommt derweil Eckhard Jesse zu Wort, der das Ritual der Vorverurteilung verurteilt und das "Sebnitz-Syndrom" diagnostiziert. Heftiger Beifall brandet unter den knapp 1.000 Besuchern auf. Jesse beklagt die fehlende Differenzierung zwischen einer rechtsextremistischen, fremdenfeindlichen oder "nur" betrunkenen Schlägerei. Im Rechtsstaat dürfe es keinen "Pauschalverdacht" geben. Auch könne er - mit Blick auf den Vertreter der Anti-Rechts-Initiative - dem "Kampf gegen Rechts" nichts abgewinnen, er spreche ja auch nicht von einem "Kampf gegen Links". Er springt damit Staatsminister Winkler bei, der Ursula von der Leyens vorschnelle Vergabe der fünf Millionen Euro an fragwürdige Anti-Rechts-Kampagnen kritisiert. Er pflichtet einem Besucher bei, der über Mikrofon anregt, daß dieses Geld wohl besser in den Mittelstand zur Ausbildungsförderung zu investieren sei.

Der Musikgruppe Virginia Jetzt ist das zuwenig. Sie soll nach der Podiumsdiskussion das Abschlußkonzert geben. Nachdem dem ersten Song unterbricht der Sänger das Programm und erklärt hochmütig, daß sie enttäuscht worden seien: "Nachdem, was wir hier erlebt haben, die Leugnung von offensichtlichem Fremdenhaß, können wir hier nicht weiterspielen." Virginia Jetzt brechen das Konzert ab und kündigen ihren letzten Song an. Darin heißt es: "Wer bin ich hier, was mach ich und wofür?" - es ist "Das ganz normale Leben". Dieses setzt sich im Fernsehen fort. In einem Gespräch mit dem Nachrichtensender N24 fragt Moderator Claus Strunz den Bürgermeister zum Abschluß, wie lange es wohl dauern werde, bis Mügeln sich wieder von dem Vorfall erholt habe. Deuse ist zuversichtlich: "in einem halben Jahr sind wird bestimmt wieder auf dem rechten Weg."

Foto: Marktplatz in Mügeln, die Pizzeria in Sichtweite: Zeugen berichten von einem brutalen Polizeieinsatz


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