© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/07 10. August 2007

Aufzeichnen einer Krankheitsgeschichte
In der Vergangenheitsbewältigung der Geschichte des Auswärtigen Amtes deutete sich früh der geistig-moralische Zustand der Nation an
Doris Neujahr

Was heute "Vergangenheitsbewältigung" heißt, warf 1951 erste Schatten voraus. Der Journalist Michael Mansfeld veröffentlichte zwischen dem 1. und 6. September in der Frankfurter Rundschau unter dem Titel "Ihr naht euch wieder ..." fünf Artikel über die Personalpolitik im Auswärtigen Amt (AA) in Bonn. Er kritisierte, daß seine Angehörigen sich weitgehend aus der alten Garde der Berliner Wilhelmstraße rekrutierten, die bereits unter Ribbentrop Dienst getan hatte. Das bedeutete nicht, daß sie automatisch Nationalsozialisten oder juristisch belastet waren, wurde aber als politischer Makel herausgestellt.

Die Wirkung der Artikel im In- und Ausland war enorm. Der Bundestag beraumte einen Untersuchungsausschuß und eine Plenardebatte an, einige Personalien wurden korrigiert. Mansfelds Artikel wirken bis heute nach und bis in Leitartikel des FAZ-Redakteurs Blasius hinein. Sie waren der Ausgangspunkt für Hans-Jürgen Döschers Standardwerk "Verschworene Gesellschaft. Das Auswärtige Amt unter Adenauer zwischen Neubeginn und Kontinuität" (1995). Dieses Buch inspirierte Joschka Fischer zur Änderung der Nachrufpraxis im AA. Dem - vergleichweise harmlosen - Fall des Diplomaten Franz Krapf, den Fischer dafür zum Anlaß nahm, hatte Dö­scher ein eigenes Kapitel gewidmet. Er revanchierte sich, indem er in seinem neuem Buch "Seilschaften. Die verdrängte Vergangenheit des Auswärtigen Amtes" (2005) - kaum mehr als eine Neuauflage der "Verschworenen Gesellschaft" - ein Loblied auf Fischer anstimmte. Dafür durfte er letzten Herbst sein Werk in der Buchhandlung des Auswärtigen Amtes vorstellen. So schließen sich die Kreise.

Die Wirkung der Mansfeld-Artikel war damals verstärkt worden durch die Berichterstattung des Bayerischen Rundfunks, wo Redakteur Helmut Hammerschmidt sich als Mansfelds Sprachrohr betätigte. Beide gaben 1956 die Broschüre "Der Kurs ist falsch" heraus, die als Gründungsdokument der "Vergangenheitsbewältigung" gelten kann. Der Grund dafür, daß sie heute nicht mehr genannt wird, ist wohl der Tadel am Wiedergutmachungsabkommen mit Israel. Die Kritik Norman Finkelsteins vorwegnehmend, kritisierten die Autoren die fehlende Transparenz und warfen der Bundesregierung vor, auf das vertraglich fixierte Recht, über die Verteilung der Gelder orientiert zu werden, zu verzichten. "So ist es zu erklären, daß nicht organisierte jüdische und nicht-jüdische Opfer des Nationalsozialismus bisher überhaupt nichts bekommen haben, ja daß die Verteilung dieser Summe ganz und gar undurchsichtig geblieben ist."

Im übrigen weiteten sie die Kritik am AA zur Gesellschaftskritik aus. "Die Auseinandersetzung mit unserer unglücklichen politischen Vergangenheit ist eine entscheidende Vorausetzung für eine glücklichere Zukunft", wird auf der ersten Seite behauptet. Auffällig ist der alarmistische Tonfall. "Sie reden wieder", "Sie verleumden wieder", "Sie wollen straflos davonkommen", "Sie stellen wieder Forderungen" usw., lauten die Kapitelüberschriften. "Sie", das sind die alten Nazis, die eine "schleichende Machtübernahme" planten. Die braune Vergangenheit stehe schon "seit Jahren (...) bei uns in Gestalt ihrer einstigen Repräsentanten wieder auf. Sie sind es, die dafür sorgen, daß wir keine Ruhe vor unserer Vergangenheit haben." Nationalistische Sprecher seien keine Einzelgänger mehr, sondern "die Tiefenpsychologen der Politik. Sie leben davon, anderer Leute verdrängte Komplexe hervorzulocken, nur daß sie diese Komplexe nicht etwa beseitigen, sondern nach außen kehren wollen."

Was hieß das konkret? "Mit Bomben auf Spruchkammern begann es. Dann wurden jüdische Friedhöfe geschändet, illegale Zeitungen gegründet, die bestehenden Parteien und ihre Vertreter diffamiert." Bedenklich seien die "primitive Vereinsprotzerei, fatalen Gefühls-aufwallungen, nationalistischen Phrasen und gußeiserne Taktlosigkeit" nach dem Sieg bei der Fußball-WM 1954 gewesen. Die Phraseologie der heutigen "Anständigen" ist schon fast vollständig vorhanden.

Was waren die Hintergründe? Beginnen wir bei der AA-Affäre von 1951/52. Das Auswärtige Amt vermutete in Helmut Hammerschmidt einen Agenten des US-Geheimdienstes, was aber auf einer Verwechselung beruhte. Hammerschmidt war CSU-Mitglied. Seine Angriffe auf die Bonner Personalpolitik lagen durchaus auf Parteilinie. Die CSU wünschte einen größeren Einfluß und eine Stärkung des katholischen Elements im AA, das traditionell eine preußisch-protestantische Domäne war. Der Chefredakteur der Zeit, Richard Tüngel, bezichtigte den US-Chefankläger von Nürnberg, Robert Kempner, Drahtzieher der Kampagne zu sein. Kempner hatte im preußischen Staatsdienst gestanden und 1933 emigrieren müssen. Die Anklagen gegen seine ehemaligen Kollegen betrieb er als persönliche Abrechnung. Die Amnestierung zahlreicher Kempner-Opfer nach Ausbruch des Kalten Krieges und die Neuetablierung der Wilhelmstraßen-Elite empfand er als persönlichen Affront.

Mansfeld breitete ein umfangreiches Hintergrund- und Detailwissen aus. Vor dem Bundestagsausschuß gab er an, dieses allein aus Akten- und Pressestudien gewonnen zu haben. Auslöser sei eine "anonyme inside information" gewesen, über deren Herkunft er nichts wisse. "Niemand hat mich unterstützt, niemand hat mir geholfen", behauptete er noch zwanzig Jahre später. Hammerschmidt ergänzte, Mansfeld sei von "Freunden auf die gefährliche Politik aufmerksam gemacht" worden, dann hätte "er sich ohne jede fremde Hilfe (...) vier Monate lang ins Nürnberger Staatsarchiv" gesetzt und "25.000 Dokumente" studiert. Die Sonntage eingerechnet, wären das mehr als 200 Dokumente täglich, was schon physisch unmöglich ist. Mansfeld entschlüpfte ein Hinweis auf mögliche Informanten und Interpretationshelfer, als er in der Frankfurter Rundschau schrieb, man würde sich noch wundern, wenn erst die Personalakten der Wilhelmstraße vorlägen. Diese befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch in London.

In seinem 1967 veröffentlichten Doku-Roman "Bonn, Koblenzer Straße", die Adresse des Auswärtigen Amtes,  schildert der Ich-Erzähler - Mansfelds Alter ego - ein langes, 1950 geführtes Gespräch mit einem "Mister CE". Eine überflüssige Geheimnistuerei, es handelte sich um den englischen Geheimdienstmann Philipp Conwell-Evans, einen Vertrauten des ehemaligen Außenministers Edward Lord Halifax und des Deutschenhassers Robert Vansittart, was spätestens seit dem Buch "Nicht aus den Akten" (1950) des AA-Mitarbeiters Erich Kordt bekannt war. Kordts Bruder Theo hatte sich 1940 mehrfach mit Conwell-Evans in der Schweiz getroffen, um für den deutschen Widerstand Friedensmöglichkeiten zu sondieren, wurde aber nur hingehalten. Um so empörter waren die Kordt-Brüder, nach dem Krieg von Vansittart als wendige Parteigänger Hitlers hingestellt zu werden - eine Lesart, die auch "Mister CE" insinuierte und Mansfeld in seinen Artikeln übernahm (Erich Kordt starb übrigens nicht, wie Döscher schreibt, 1970, sondern im November 1969 - er wurde tot aus dem Rhein gefischt).

Es wäre trotzdem falsch, die "Vergangenheitsbewältigung" auf eine fremdgesteuerte Unternehmung zu reduzieren. Die tiefere Ursache war Deutschlands hoffnungslose politische und psychologische Lage nach dem Krieg. Michael Mansfeld ist heute nur noch als Drehbuchautor von Bernhard Wickis Film "Die Brücke" bekannt. 1922 geboren, gehörte er (wie Hammerschmidt) der Kriegsgeneration an. Sein richtiger Name ist Eckart Heinze. Er wuchs auf im mitteldeutschen Industriegebiet, im Mansfelder Land, daher das Pseudonym. Heinze-Mansfeld wurde, wenn man den wenigen Quellen glauben kann, im Krieg neunmal verwundet, erhielt 13 Auszeichnungen und geriet in Kriegsgefangenschaft. Er schrieb zwei Romane, neben "Bonn, Koblenzer Straße" den Erstling "Sei keinem Untertan" (1956). Künstlerisch sind sie wertlos, es handelt sich um politische Streitschriften. Mansfeld empfand sich als Überlebender, Sprachrohr und Rächer seiner hingemetzelten Generation. "Kalter Haß" habe ihn 1951/52 beseelt, schrieb er 1970 dem CDU- und vormaligen FDP-Politiker Ulrich Keitel. "Den Leuten anständig auf den Schlips zu treten, die meiner Generation die Suppe eingebrockt und nun sich erneut hinstellten, als sei nichts gewesen", sei er seiner "Generation schuldig" gewesen. Zu diesen "Leuten" zählte er auch die Wilhelmstraßen-Diplomaten.

Mansfeld litt an der deutschen Teilung. 1956 gab er den Bildband "Denk ich an Deutschland" heraus, einen, so der Untertitel, "Kommentar in Wort und Bild". Diverse Deutschland-Konferenzen waren gescheitert, die zwei deutschen Staaten standen sich als Mitglieder feindlicher Militärblöcke gegenüber. Das ist der Hintergrund für das Pathos des Einleitungstextes: "Als ein alliierter Sprecher nach dem Manöver 'Carte Blanche' im Februar 1955 bekanntgab, daß zweihundertsechsundachtzig Atombomben auf deutschen Boden gefallen seien und daß - theoretisch - die Zahl der Opfer zwischen zwei und zwanzig Millionen toter Deutscher schwanke (...), als in der Sowjetzone junge Männer zur 'Nationalen Volksarmee' gepreßt wurden, da entstand dieses Buch (...). Den Überlebenden gilt dieses Buch: den Selbstgerechten im Lichte des deutschen Neonwunders und den verzweifelt Hoffenden im Schatten eines von uns allen verlorenen Krieges - jenen siebzehn Millionen, die so zu uns gehören, wie einst diejenigen zu uns gehörten, die hinter dem Stacheldraht von Auschwitz und Buchenwald der Erlösung harrten.

Heute wie damals: Wir sind mitverantwortlich für das, was in Deutschland geschieht, in einem Deutschland, in dem die Epigonen der wilhelminischen Ära und die Plagiatoren einer erstarrten Revolution ein gespaltenes Volk widereinander bewaffnen! Wir lassen es zu - und wir tragen Schuld!"

Mit der Kritik an Adenauers Westpolitik, die hier durchschimmert, stand Mansfeld nicht allein. Seine Spezifik liegt in der Transformation des politischen Konflikts auf die Ebene moralischer Anklage und Selbstanklage und seine Verknüpfung mit der "unbewältigten Vergangenheit". Seine inneren Beweggründe erschließen sich aus einer Szene im Roman "Sei keinem Untertan", die den Bonner Presseball 1954 schildert. Besonders unsympathisch erscheint hier eine "Halbengländerin", welche die Wiedervereinigung "transpiriert" und erklärt: "Das Abendland kann erst wiederentstehen, wenn die Amerikaner ihre Verpflichtung zur Wiedervereinigung einsehen." Ein Aufsatz, den sie dazu verfaßt hat, wird vom AA als "nicht zeitgemäß" eingestuft, was sie zu der spitzen Bemerkung veranlaßt: "Manchmal glaube ich, daß wir sogar bei den Nazis größere Freiheiten hatten."

Es handelt sich, wie leicht zu erkennen ist, um eine Karikatur der Journalistin und "Halbamerikanerin" Margret Boveri, die 1954 in der Zeitschrift Merkur den Aufsatz "Die Deutschen und der Status quo" publiziert hatte. Woher Mansfelds Wut gegen die berühmte Kollegin, deren deutschlandpolitische Ziele er grundsätzlich teilte? Nun, Boveri vertrat die Auffassung, daß nicht nur die Sowjetunion, sondern auch die Westmächte die Teilung Deutschlands zementierten. Daher müßten die BRD- und DDR-Deutschen unterhalb der Vier-Mächte-Verantwortung zusammenarbeiten, eigene Arbeitsebenen etablieren und den Siegermächten entgegenwirken - gemeinsam. Wenn man diese Konstellation rückprojizierte, ergab sich die Schlußfolgerung, daß dem Zweiten Weltkrieg außer Hitlers Hybris auch die Absicht der gegnerischen Staaten zugrunde lag, Deutschland als Machtfaktor auszuschalten, zu zerschlagen, zu teilen.

Boveri, eine glänzende Analytikerin der internationalen Diplomatie - ihre noch immer lesenswerte Dissertation befaßte sich mit der englischen Außenpolitik am Vorabend des Ersten Weltkriegs - war in der Tat dieser Meinung. Wie aus Briefen vom Herbst 1939 hervorgeht, glaubte sie, daß die Engländer "die Polen in den Krieg ziehen ließen, (ich will nicht sagen hetzten), ohne die Absicht zu haben, ihnen zu Hilfe zu kommen, anstatt ihnen bei einer gütlichen Einigung mit Deutschland zu helfen", und ihr ferneres Ziel ein Über-Versailles sei. Wenn das zutraf, dann wären die Funktionseliten der Wilhelmstraße lediglich Mit-Akteure in einem Spiel gewesen, auf das sie nur beschränkten Einfluß hatten, und damit als Adressaten des Hasses und der Verzweiflung Mansfelds ungeeignet. Er hätte sich als Opfer einer doppelten Demütigung wiedergefunden: Erstens des NS-Regimes, zweitens der Siegermächte, die Hitler zum Anlaß genommen hatten, Deutschland in einen "machtpolitischen Krater" ("Bonn, Koblenzer Straße") zu verwandeln und nun verhinderten, daß die deutsche Wunde, an der er litt, sich schloß. Das war zuviel.

Trotz Einwänden waren die Westmächte für Mansfeld "mächtige Verbündete", die für die Freiheit Deutschlands einstanden. Warum zeigten sie sich dann aber an der Einheit desinteressiert, verplanten es gar als atomares Schlachtfeld? Mansfeld glaubte: "Dieselben Verbündeten beobachten unsere Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit sehr genau. Auf diesem Gebiet aber, wo nicht nur über unseren sehr notdürftig wiederhergestellten Ruf, sondern auch über unsere politische Zukunft geurteilt werden kann (...) ist in den letzten Jahren viel versäumt worden." Man mußte also, um die Westmächte auf die Wiedervereinigung festzulegen, ihnen zeigen, daß man dem wuchernden Nazismus Widerstand leistete, und wenn das Vertrauen immer noch nicht ausreichte, hatte man eben nicht genug für die Vergangenheitsbewältigung getan, und man mußte weitermachen, immer weiter.

Margret Boveri schrieb 1974: "Aufbereiten unserer Geschichte seit 1945 ist gleichbedeutend mit dem Aufzeichnen einer Krankheitsgeschichte. Wir müssen uns klarmachen, daß die von den Siegermächten verfügte Spaltung unseres Landes spiegelbildlich in den Deutschen eine geistig-politische Schizophrenie verursacht hat, die einen fast totalen Realitätsverlust bedeutete." Die Krankheitsgeschichte dauert an.

Foto: Wolfgang Mattheuer, "Kein Ende, irgendwann...?" (Öl auf Leinwand, 1987): Vergangenheitsbewältigung immer weiter treiben


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