© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/07 27. Juli / 03. August 2007

Rein sei das Herz, fest sei der Bund
Hundert Jahre Pfadfinderbewegung: Ihr Gründer Robert Baden-Powell wollte den Dekadenzerscheinungen der Jugend entgegenwirken
Karlheinz Weissmann

Als der Verfasser seinen ersten Englischunterricht erhielt, Ende der sechziger Jahre, sollte das Lehrbuch ein möglichst positives Bild Großbritanniens zeichnen. Neben Grammatikübungen und Vokabellisten gab es Texte zur Landeskunde und Geschichte mit ganz naiv-patriotischer Tendenz. Der deutsche Schüler lernte so eine lange Liste britischer Helden kennen, von Alfred dem Großen über Wilhelm den Eroberer bis zu Florence Nightingale. Vor allem aber beeindruckte Robert Baden-Powell. Das lag wohl daran, daß man den Gründer der Pfadfinderbewegung mit einer spannenden Erzählung vorstellte: Während des Zweiten Burenkrieges soll Baden-Powell den Ort Mafeking 217 Tage lang mit 700 Soldaten gegen 9.000 Buren gehalten haben, wobei der Einsatz von Jungen als "scouts", also Kundschaftern, eine entscheidende Rolle spielte.

Die Darstellung in dem Lehrbuch war kritiklos, weder die politischen Hintergründe noch die Mobilisierung Heranwachsender erschienen irgendwie problematisch. Heute wäre das kaum noch vorstellbar, ohne daß das Urteil über Baden-Powell und den "scoutism" deshalb gerechter ausfiele. Zwar ist der Vorwurf des "Präfaschismus" leiser geworden, aber längst nicht verstummt. Es überwiegen Skepsis oder Desinteresse. Die Feststellung Karl Seidelmanns, des Historikers der deutschen Pfadfinderbewegung, man müsse Baden-Powells Erziehungskonzept "uneingeschränkt Weltrang" zubilligen, dürfte jedenfalls die meisten überraschen. Dabei erscheint es wohlbegründet, denn Baden-Powell war der erste, der die Ortlosigkeit des Jugendlichen in der modernen Welt nicht nur bemerkte, sondern auf praktische Abhilfe sann und diese erfolgreich umsetzte.

Vor hundert Jahren, zwischen dem 25. Juli und dem 9. August 1907, führte Baden-Powell ein erstes Pfadfinderlager auf der Insel Brownsea durch. Er hatte für dieses "experimental camp" einundzwanzig Jungen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten zusammengezogen und legte in der Folgezeit seine Erfahrungen und Schlußfolgerungen in dem Buch "Scouting for Boys" nieder. Zu diesem Zeitpunkt stand sein Entschluß, den Dienst in der Armee zu quittieren, noch nicht fest. Er war Kolonialoffizier und hatte sich in Indien und bei den Kämpfen in Afrika gegen die schwarzen wie die weißen Eingeborenen Verdienste erworben und mehrfach ausgezeichnet. Soweit die oft hagiographischen Darstellungen seines Lebens zutreffen, muß er ein begabter Führer gewesen sein, beliebt bei seinen Untergebenen und mit einem wachen Sinn für die fremden Kulturen.

Aber Baden-Powell war auch ein Mann mit ausgeprägtem Abenteuersinn, der sich immer wieder auf riskante Alleingänge begab, in die Armenviertel Indiens oder auf die Schlachtfelder Afghanistans ebenso wie auf Erkundung der Drakensberge in der Verkleidung eines Journalisten. Diese Art von Späher- und Waldläufertum trug wesentlich zur Prägung seiner pädagogischen Ideale bei.Als er kurz nach der Jahrhundertwende dauernd in seine Heimat zurückkehrte, hatte Baden-Powell die Fünfzig fast erreicht, stand im Rang eines Generalmajors und sollte die britische Kavallerie reorganisieren. Aber 1910 trat er in den Ruhestand und begann sich intensiv mit dem Aufbau eines landesweiten Jugendverbandes, der "Boy Scout Association", zu beschäftigen. Er schloß, wie er sagte, sein "Leben Nr. 1" ab und begann sein "Leben Nr. 2".

Der außerordentliche Erfolg, den er auch im "Leben Nr. 2" hatte, ist nicht zu erklären ohne einen Verweis auf die Zeitstimmung, die von Dekadenzfurcht bestimmt war und zahlreiche Klagen über den moralischen und körperlichen Verfall der Jugend hervorbrachte. In Reaktion darauf entstanden verschiedene Bewegungen, vom "Woodcraft" in den USA bis zum Wandervogel in Deutschland, die immer darauf abzielten, ein naturnahes und gleichwohl diszipliniertes Leben zu führen. Aber keine von ihnen erreichte eine dem Pfadfindertum vergleichbare Resonanz. Baden-Powells "Scouting for Boys" war in kurzer Zeit mehr als zweihunderttausend Mal verkauft und rasch in andere Sprachen übersetzt worden. Seine Forderungen nach selbstlosem Einsatz, Kameradschaft der kleinen Gruppe und dem berühmten "learning by doing" mochten simpel erscheinen, aber vielleicht war gerade das das Geheimnis ihres Erfolgs.

Man darf dabei nicht übersehen, daß das Konzept eng mit jenem zusammenhing, das Baden-Powell vorher für die Ausbildung von Soldaten entwickelt hatte. Und bezeichnenderweise entschloß er sich erst zur Gründung einer selbständigen Organisation, nachdem die Erfahrungen mit einer bereits bestehenden - den paramilitärischen "Boy's Brigades" - unbefriedigend gewesen waren. Solche und ähnliche Verbände waren in Großbritannien seit der Jahrhundertwende entstanden, um die "nationale Effizienz" zu steigern. Ihre Protagonisten wollten Großbritannien auf einen Konflikt vorbereiten, in dem es Deutschland als Hauptfeind gegenüberstehen würde, einem Deutschland, das nicht nur als wirtschaftlicher und politischer Konkurrent betrachtet wurde, sondern auch über eine außerordentlich starke und an Ordnung gewöhnte Bevölkerung verfügte. Verglichen damit erschienen die Briten weich und haltlos; nur eine strenge Form und dauerndes Training konnten das ändern. Da die Widerstände gegen die Wehrpflicht nicht zu überwinden waren, sollten Organisationen wie die Boy's Brigades hier Abhilfe schaffen und dem Land im Kriegsfall körperlich geübte und vormilitärisch ausgebildete junge Männer zur Verfügung stellen. Bezeichnenderweise unterstützte der Liberale Richard Haldane, auf den die Kampagne für "nationale Effizienz" wesentlich zurückging, als Staatssekretär des Kriegsministeriums Baden-Powells Versetzung in den Ruhestand mit den Worten: "Ich fühle, daß diese Ihre Organisation ein so wichtiger Beitrag für die Zukunft ist, daß Sie der Nation wahrscheinlich den größten Dienst erweisen, wenn Sie sich ihr widmen."

Weder die Uniformierung nach dem Vorbild der britischen Kolonialtruppen noch der demonstrative Patriotismus oder der von Baden-Powell für die Boy Scouts übernommene Sankt-Georgs-Kult (der ein wichtiges symbolisches Bindemittel für die Siedlungskolonien des Empire war) können als belanglose Äußerlichkeiten betrachtet werden. Das alles gehörte zu den integralen Bestandteilen des "scoutism", der sich rasch hoher Protektion erfreute und außerordentlichen Zulauf gewann. Schon im Jahr 1909 hatte König Eduard VII. das Patronat übernommen; zu dem Zeitpunkt gab es bereits mehr als 100.000 Pfadfinder.

Trotzdem wäre es ein Mißverständnis, wenn man aus dem Gesagten folgerte, die Bewegung sei nur eine innerbritische, auf nationale Ertüchtigung gerichtete gewesen. Baden-Powell verfolgte von Anfang an auch philanthropische und soziale Ziele, seine Erziehungskonzepte sollten gerade Arbeiterkinder vor der Verwahrlosung schützen und die Uniform als Einheitskleidung auch die Klassenunterschiede zwischen den Pfadfindern verdecken. Diese Züge erklären viel von der Übertragbarkeit seiner Ideen und führten dazu, daß sich das Pfadfindertum schon vor dem Ersten Weltkrieg über die Grenzen des britischen Reiches ausbreitete.

Baden-Powell hat den Krieg als große Tragödie aufgefaßt und für die Zukunft den friedenstiftenden Charakter der Pfadfinderarbeit hervorgehoben. Der kam vor allem in den Weltpfadfindertreffen, den "Jamborees", zum Ausdruck. Andererseits gehörte die Vaterlandsliebe zu den selbstverständlichen Pflichten aller Scouts, was erklärt, warum sie in den einzelnen Ländern - ganz gleich ob konfessionell gebunden oder nicht - als ausgesprochen nationale Jugendorganisationen galten. Als der "Chief Scout of the World" 1941 auf seinem Besitz in Kenia starb, hatte seine Bewegung längst einen den Globus umspannenden Charakter angenommen, sich aber auch deutlich verändert.

Bereits vor dem Ersten Weltkrieg waren Mädchen - "Girl Guides" - in einem selbständigen Verband zusammengefaßt worden, später folgten eigene Gruppen für das späte Kindesalter und die älteren Jugendlichen, es kam zu einer deutlichen Professionalisierung der Führerausbildung, und es entstand eine eigene Administration, an deren Spitze das Boy Scout International Bureau stand, bei dem sich nationale Organisationen um Aufnahme in die Weltföderation bewerben konnten. Daneben existierte aber auch ein "Wildwuchs", der zu den Kennzeichen jeder vitalen Bewegung gehört: viele Bünde, die aus religiösen, politischen oder weltanschaulichen Gründen unabhängig bleiben wollten, aber doch im wesentlichen den Prinzipien Baden-Powells folgten.

Seither hat die Pfadfinderei eine Reihe von Krisen durchlebt: die Gleichschaltung oder Indienstnahme durch totalitäre Systeme und den großen Bruch mit der Tradition am Ende der sechziger, zu Beginn der siebziger Jahre. Manche glaubten, daß sie sich davon nicht mehr erholen werde. Aber diese Einschätzung war falsch: Allein in Deutschland gehören heute wieder 260.000 Mitglieder zu den verschiedenen Verbänden der Pfadfinder - Tendenz steigend.

Weitere Informationen beim Ring deutscher Pfadfinderverbände (RdP), Mühlendamm 3, 10178 Berlin, Tel. 030 / 20 05 45 64, Fax: 030 / 20 05 45 66, Internet: www.scoutnet.de/rdp/

Einen guten Überblick gibt auch die Seite www.pfadfinder-treffpunkt.de

Foto: Pierre Joubert: Pfadfinder-Kolonne, darüber deren Schutzpatron St. Georg der Drachentöter


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