© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/07 27. Juli / 03. August 2007

Vergiftete Atmosphäre
Geheimdienste: Die britisch-russischen Spannungen im Mordfall Litwinenko sind mehr als eine "Mini-Krise", aber kein neuer "Kalter Krieg"
Michael Paulwitz

Die Kreml-Astrologen haben wieder Konjunktur. Wie zur Blütezeit des Kalten Krieges schicken London und Moskau wechselseitig Diplomaten der anderen Seite nach Hause, drohen einander mit Sanktionen und liefern sich Verbalduelle. Vordergründig ähnelt die Eskalation der Affäre um den Londoner Polonium-Mord an dem Putin-Kritiker Litwinenko den Konfrontationsritualen des Ost-West-Konflikts der Supermächte. Dahinter könnte ein Machtkampf in der Umgebung des Präsidenten stehen, aber auch die Standortsuche Rußlands in der multipolaren Welt und die Gefahr eines neuen Rüstungswettlaufs - heißt es.

Wie dünn die Nerven auf beiden Seiten sind, zeigte ein Zwischenfall Anfang vergangener Woche, als einen Tag nach der Ausweisung von vier russischen Diplomaten wegen ihrer Geheimdienst-Aktivitäten zwei russische Bomber ihren Routine-Kontrollflug im internationalen Luftraum vor der norwegischen Küste bis fast nach Schottland ausdehnten, worauf zwei britische Tornados aufstiegen, um sie abzudrängen. Einen Tag später mußten vier britische Diplomaten in Moskau ihre Koffer packen. Zuletzt hatte Rußland 1996 vier britische Diplomaten ausgewiesen, die beim Spionieren erwischt worden waren.

Der Fall Litwinenko ist dabei Auslöser, aber nicht Ursache der britisch-russischen Spannungen. Der Ex-Geheimdienstmann Alexander Litwinenko war am 1. November 2006 in London mit Polonium vergiftet worden und drei Wochen später gestorben. Obwohl das radioaktive Material eine breite Spur durch Europa gezogen hat, ist bis heute unklar, wer es ihm verabreicht hat.

Fest steht, daß Litwinenko am Tag seiner Vergiftung den italienischen KGB-Experten Mario Scaramella sowie die früheren KGB-Leute Andrej Lugowoj und Dimitri Kowtun in London getroffen hat; an beiden Orten wurden radioaktive Spuren gefunden. Den britischen Behörden galt Lugowoj rasch als Hauptverdächtiger; Ende Mai beantragten sie seine Auslieferung. Die Witwe des Ermordeten vermutete in einem Mitte Juni vorgestellten Buch in Kowtun den Täter, während Lugowoj nach dem britischen Auslieferungsantrag Scaramella ins Spiel brachte und eine frühere Version der russischen Staatsanwälte zu bekräftigen versuchte, wonach ein mafiös verstrickter Ex-Manager des von Putin zerschlagenen Yukos-Konzerns dahinterstecke.

Litwinenko hatte noch auf dem Totenbett Putin selbst beschuldigt, ihn ermordet zu haben. Die ungewöhnliche Mordwaffe - an Polonium kommt nur, wer Zugang zu geschützten Labors des militärisch-industriellen Komplexes hat - deutet freilich auf einen hoch angesiedelten Geheimdiensthintergrund. Litwinenko gehörte zu einem Kreis von Geheimdienstlern, die enthüllt hatten, daß tschetschenische Terroranschläge Ende der Neunziger, deren harte Ahndung die Popularität des eben vom FSB-Chef zum Ministerpräsidenten aufgestiegenen Putin begründet hatten, angeblich vom Geheimdienst FSB selbst inszeniert worden sein sollten. Vier Personen, die diese These recherchierten, wurden in Rußland bereits ermordet.

Bekannt geworden war Litwinenko allerdings schon 1998 durch die Enthüllung, er habe den Befehl zum Geheimdienstmord an dem Oligarchen Beresowski erhalten. Beresowski war der Strippenzieher der "Familie" von Paten und Privatisierungsgewinnlern, die unter Jelzin faktisch regiert und auch Putin den Weg zur Macht geebnet hatte. Weil dieser nicht Marionette sein wollte und die Bosse entmachtete, emigrierte Beresowski nach London, von wo er unermüdlich Kampagnen gegen Putin finanzierte, darunter Litwinenkos Buch über die FSB-Tschetschenen-Verschwörungsthese, und russische Oppositionelle nach eigenen Angaben mit fast einer Milliarde Dollar unterstützte.

Beresowski ist zweifellos ein Erzfeind Putins, und routinemäßig taucht nach jedem Mord in seinem Umfeld die Umkehr-Verschwörungstheorie auf, Beresowski selbst habe damit den Kreml diskreditieren wollen. Auch im Fall Litwinenko wurde dieser Verdacht prompt lanciert. Beresowski konnte mit einem erst vor wenigen Wochen vereitelten Mordanschlag auf ihn kontern, dessen Spuren in den Kreml führen sollen. Scotland Yard bestätigte den Vorgang, der möglicherweise für die harte Haltung der britischen Regierung mitverantwortlich war.

Unzufrieden mit den Ergebnissen der gemeinsamen Befragungen Lugowojs durch russische und britische Beamte im Januar, besteht London jetzt auf der Auslieferung seines Hauptverdächtigen. Moskau kontert mit dem Hinweis auf die eigene Verfassung, die nach amerikanischem und israelischem Vorbild die Auslieferung russischer Staatsbürger verbietet, und auf die britische Weigerung, Beresowski zu überstellen, gegen den in Rußland ebenfalls ein Prozeß läuft. Gleichwohl wurde die wasserdichte juristische Position Rußlands in der Vergangenheit nicht konsequent durchgehalten; einen turkmenischen Dissidenten etwa rettete jüngst auch die Annahme der russischen Staatsbürgerschaft nicht vor der Auslieferung. Eine solche Lösung dürfte wohl auch London im Sinn haben, das die anmaßende Forderung nach "Verfassungsänderung" inzwischen wieder zurückgenommen hat.

Daß der Kreml inzwischen Lugowoj ebenfalls als "Verdächtigen" führt, werten die neuen Kreml-Astrologen ebenso als Entspannungssignal wie die verbale Deeskalation Putins, der zuletzt nur noch von einer lösbaren "Mini-Krise" sprach, nachdem die Moskauer Zeitung Kommersant schon den "diplomatischen Krieg" ausgerufen hatte und russische Unternehmen mit dem Rückzug von der Londoner Börse gedroht hatten.

Über die Motive der Beteiligten in diesem Spionage-Krimi darf weiter spekuliert werden. Das Taktieren Putins kann durchaus die These stützen, es handele sich um die äußeren Symptome eines Machtkampfes verschiedener Geheimdienstfraktionen um das Erbe Putins. Denkbar ist auch die Variante, daß einflußreiche Profiteure des Systems Putin Unruhe stiften, um ihren Schutzherrn zu einer weiteren Amtszeit zu bewegen. Die verbindende Grundmelodie ist zweifellos das Bedürfnis Rußlands, die neugewonnene Liquidität als Rohstoffexporteur zu offensivem Weltmacht-Auftreten zu nutzen und so die eigenen Defizite zu überspielen.

Angesichts der eigenen Lage hat Rußland an einem neuerlichen Rüstungswettlauf wie im Kalten Krieg wenig Interesse; es könnte ihn kaum gewinnen. Gleichwohl sieht es sich mit dieser Gefahr konfrontiert; Pentagon-Chef Robert Gates, die US-Geheimdienste und ein Senatsbericht haben schon zu Jahresbeginn Vorbereitungen auf einen möglichen Krieg mit Rußland gefordert. Die US-Raketenabwehrpläne werden in Rußland in diesem Zusammenhang gesehen. Sollte Londons Zuspitzung der Litwinenko-Lugowoj-Affäre in diesen Kontext gehören, wären die möglichen Konsequenzen in der Tat alarmierend.

Foto: Russischer Ex-Geheimdienstler Lugowoi: Beide Seiten haben kein Interesse an einer Eskalation


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