© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/07 27. Juli / 03. August 2007

"Die Verbrechen der Nazis sind keine Entschuldigung für unser Handeln"
"Der Brand" sorgte vor fünf Jahren hierzulande für einen Tabubruch in Sachen Bombenkrieg, blieb aber in England verschmäht. Nun wankt auch dort das tabu. Das neue Buch des Philosophen Anthony C. Grayling revolutioniert die Debatte
Moritz Schwarz

Herr Professor Grayling, Ihr inzwischen auch auf deutsch erschienenes Buch "Die toten Städte" hat in Großbritannien eine heftige Diskussion ausgelöst.

Grayling: Ja, die Reaktionen waren sehr kontrovers. Viele Leute machen mir Vorwürfe, wie ich unsere Luftwaffen-Veteranen so in den Schmutz ziehen könne, und ob ich etwa glaube, die Piloten der deutschen Luftwaffe seien besser gewesen? Interessant ist aber, daß positive Reaktionen sogar von ehemaligen Bomberpiloten kommen, die heute zugeben, daß sie für Jahre das Gefühl hatten, mit einer schweren Schuld zu leben.

Deutschlands Luftkriegsexperte Nummer eins, Professor Horst Boog, hat Ihr Buch in dieser Zeitung (JF 17/07) einen "Meilenstein" und "Quantensprung" genannt und als das couragierteste britische Buch über den Luftkrieg gegen Deutschland beschrieben.

Grayling: Nun, ich denke schon, daß mein Buch die Debatte verändert hat. Immerhin ist es die erste ausführliche Studie zu diesem Thema in Großbritannien. Auch wenn ich nicht provozieren will um des Provozierens willen, so war mir aber schon klar, daß es eine Debatte anstoßen würde.

Was hat Ihr Buch konkret bewirkt?

Grayling: Seit dem Zweiten Weltkrieg war die britische Wahrnehmung des Bombenkriegs gegen Deutschland dominiert vom Argument der angeblichen militärischen Zweckmäßigkeit. Mein Buch hat dagegen nun den Sinn für die moralische Dimension geschärft. - Diese Blindheit betrifft übrigens auch andere Kapitel der Geschichte, wie zum Beispiel das Verhalten westalliierter Truppen im besetzten Deutschland. Heute wissen wir, daß einige unserer Soldaten sich dort wirklich ganz miserabel aufgeführt haben. Auch das ist ein Thema, dem wir uns bis heute nicht stellen, sondern das wir unter dem Deckmantel, wir waren die gerechten Sieger über einen ungerechten Feind, zudecken. Was den Bombenkrieg betrifft: Zu lange ging es allein darum, ihn zu rechtfertigen. Heute aber ist die Zeit reif, ihn vor allem zu verstehen! Dazu gehört es, die Dinge voneinander zu scheiden: Zum Beispiel die Tatsache der furchtbaren Nazi-Verbrechen von der Tatsache, daß die einfachen Deutschen - ob sie nun Unterstützer der Nazis waren oder nicht - furchtbarem Leid durch die alliierten Bombardements ausgesetzt waren.

Ihr Buch trägt den Untertitel: "Waren die alliierten Bombenangriffe Kriegsverbrechen?" Waren sie das?

Grayling: Man kann diese Frage juristisch und moralisch beantworten. Moralisch gesehen komme ich in meinem Buch zu dem Schluß: Ja, sie waren ein Kriegsverbrechen. Für die juristische Antwort muß man allerdings wissen, daß die völkerrechtliche Definition für Kriegsverbrechen erst für die Nürnberger Prozesse ab November 1945 entwickelt worden ist, also erst nach dem Krieg. Angenommen aber, die Definition für Kriegsverbrechen hätte schon zu Beginn des Zweiten Weltkrieges existiert, dann müßte man sagen: Ja, auch in diesem Sinne waren sie Kriegsverbrechen.

Ein Verstoß gegen den politisch korrekten Comment - nicht nur in Großbritannien, auch in Deutschland.

Grayling: In Großbritannien, wie in Deutschland, ist das Thema mit einem Tabu belegt. Allerdings unterscheiden sich beide Tabus. Das deutsche ist nach meiner Ansicht ebenso geprägt von der Demütigung, die in einer totalen Niederlage steckt und dem daraus erwachsenden Bedürfnis, möglichst nur noch in die Zukunft zu blicken, wie von der unterschwelligen Vorstellung einer Kollektivschuld für die Nazi-Zeit. Dabei ist es natürlich völlig abwegig, daß jeder Deutsche Strafe für die Verbrechen der Nazis verdient hätte, aber seltsamerweise sind viele Deutsche trotzdem unmerklich in dieser Vorstellung gefangen. In Großbritannien geht es genau um das Gegenteil, nämlich darum, Schuld abzuweisen. In unserem kollektiven Gedächtnis herrscht die Identifikation mit den jungen Burschen vor, die als Piloten den langen Weg nach Deutschland fliegen mußten, mitten hinein in die äußerst gutorganisierte deutsche Jagd- und Luftabwehr. Das Empire hat immerhin 55.000 Mann im Himmel über Deutschland verloren. Wir sehen vor allem dieses Opfer, nicht das der hunderttausenden Deutschen, die in den Städten starben. Das britische Tabu dient dazu, diesen Einsatz, diesen enormen Aderlaß zu rechtfertigen und das Opfer dieser jungen Männer militärisch wie moralisch zu legitimieren.

"Die toten Städte" sind also für England, was Jörg Friedrichs "Der Brand" für Deutschland ist?

Grayling: Oh, ich hoffe es! Herr Friedrich hat natürlich den Vorteil, daß viele Deutsche auf sein Buch gewartet haben, die dankbar sind, daß endlich jemand ihre damaligen Leiden öffentlich thematisiert. Mein Buch dagegen ist für die Briten unbequem.

Bereits die Haager Landkriegsordnung verbot die Bombardierung ziviler Ziele - auch wenn man damals noch an Artillerie und Heißluftballons, statt an Flugzeuge dachte. Viele fragen sich deshalb, warum das britische Area-Bombing nicht auch de jure ein Kriegsverbrechen war.

Grayling: Das ist eine berechtigte Frage und in der Tat eine äußerst kontroverse Angelegenheit. Denn sogar der britische Premierminister Neville Chamberlain nannte das Bombardieren von Zivilisten bereits 1939 ein "internationales Verbrechen" und kündigte an - auch wenn es dann leider anders kam -, daß Großbritannien deshalb darauf verzichten werde. Zur Frage nach der Haager Landkriegsordnung von 1899 muß man wissen, daß diese nur eine Laufzeit von sechs Jahren hatte. Danach wurde sie für weitere sechs Jahre verlängert. So war immerhin der historisch erste Bombenwurf von einem Flugzeug auf Zivilisten, nämlich der einer italienischen Maschine 1911 auf Tripolis, völkerrechtswidrig. Aber der Vertrag lief 1912 aus, weshalb er auch zum Beispiel für die Luftangriffe der Deutschen auf London während des Ersten Weltkrieges keine Rolle spielte. Danach gab es verschiedene Versuche, eine neue Vereinbarung zu erreichen. Als Chamberlain schließlich von einem "internationalen Verbrechen" sprach, bezog er sich nicht auf geschriebenes Recht, sondern auf eine Art Sittengesetz, ein Gewohnheitsrecht, das er durch den abgelaufenen Vertrag von Den Haag und die internationale Debatte über dieses Thema seitdem für gegeben sah.

Juristisch ist der Luftkrieg gegen Zivilisten erst wieder seit Ende der siebziger Jahre verboten.

Grayling: Als 1949 die 4. Genfer Konvention über den Schutz von Zivilisten im Krieg auch Artikel umfassen sollte, die das Area-Bombing zu einem Kriegsverbrechen erklärten, lehnten das sowohl London wie auch Washington ab. Tatsächlich wurde das erst 1977 durch das Zusatzprotokoll II nachgeholt. Diesmal stimmten die Briten zu, die USA aber erneut nicht.

Hat das Nicht-Aufarbeiten der alliierten Bombenoffensive nach dem Zweiten Weltkrieg also etwa die Bombardierung Vietnams, wo mehr Bomben niedergingen, als über Deutschland, erst möglich gemacht?

Grayling: Auf jeden Fall, gar keine Frage! Das gleiche gilt für Japan. Die USA haben den Einsatz ihrer Atombomben niemals aufgearbeitet. Japan war zum Frieden bereit, unter der Bedingung, seinen Kaiser behalten zu dürfen. Die USA haben das abgelehnt - und schließlich statt dessen zwei Atombomben geworfen. Der Mann, der 1945 die 21. US-Bombergruppe im Pazifik befehligt hat, die Tokio mit Brandbomben auslöschte und die Hiroshima und Nagasaki atomar vernichtete, war der Mann - General Curtis LeMay -, der später den Satz formulierte: "Wir werden die Vietnamesen zurück in die Steinzeit bomben!" Ein klassisches Beispiel, wie sich Geschichte wiederholt, wenn man nichts aus ihr lernt.

War es also ein historischer Fehler, daß die alliierten Bombenangriffe nicht bei den Nürnberger Prozessen verhandelt wurden, wie von deutscher Seite beantragt?

Grayling: Der Grund, warum dies abgelehnt wurde, war, um zu verhindern, daß dann mit dem Verweis auf alliierte Verbrechen, es nicht mehr möglich sein würde, deutsche Untaten zu ahnden. Sie haben aber insofern recht: Falsch war sicher, daß mit dieser Überlegung einherging, daß diese Frage schließlich niemals mehr verhandelt wurde.

Warum haben Sie sich als erster britischer Autor überhaupt, über sechzig Jahre nach dem Ende des Krieges, dieses Themas angenommen?

Grayling: Man würde in der Tat annehmen, solch ein Buch müßte ein Historiker und kein Philosoph schreiben. Irrtum, gerade ein Philosoph muß dieses Buch schreiben! Denn es behandelt die moralische Frage, wie beherrschen wir unser Verhalten in Zeiten eines Konfliktes, in Zeiten des Krieges? Die britischen Luftkriegshistoriker, mit Ausnahme vielleicht von Max Hastings (Interview in JF 50/02), neigen eher dazu, den totalen Bombenkrieg zu rechtfertigen. Sie führen an, er habe die Deutschen demoralisiert und ihre Kriegsproduktion geschädigt.

Sie sagen, das Gegenteil ist richtig, die strategische Bombenoffensive habe den Krieg verlängert.

Grayling: Vermutlich ja. Denn wenn Großbritannien die Mittel, die es für das Area-Bombing aufgewendet hat, in die Bekämpfung der deutschen U-Boote im Atlantik und in gezielte Angriffe auf militärisch relevante Versorgungseinrichtungen gesteckt hätte, wäre Deutschland vermutlich früher zusammengebrochen. Die Amerikaner haben es vorgemacht: Sie haben mit gezielten Punktangriffen bei Tag sehr erfolgreich die deutsche Treibstoffversorgung schwer geschädigt. Aber um all das geht es mir gar nicht. Mich beschäftigt vielmehr die Frage: Heiligt der Zweck die Mittel? Manche Leute sind der Meinung, in bezug auf Krieg ist die Frage beinahe müßig, denn der Krieg sei an sich schon das Ende jeder Moral. Dem widerspreche ich, denn was soll das heißen? Etwa, daß man auch Frauen und Kinder töten darf, nur weil sowieso Krieg ist? Dann antworten diese Leute: Natürlich nicht! - Aha, also spielt die Frage nach der Ethik im Krieg doch eine Rolle und die Frage stellt sich, wie diese Ethik nun aussieht?

Und wie sieht sie aus?

Grayling: Ich habe meine Überlegungen vom Standpunkt der Westalliierten 1939 begonnen, die damals den Anspruch erhoben, gegen Nazi-Deutschland und Japan einen gerechten Krieg zu führen, weil diese beiden Nationen der Aggressor waren und obendrein im Zuge ihrer Aggression schreckliche Kriegsgreuel verübten. Dieser moralische Anspruch führt aber zu der Konsequenz, daß den Alliierten nicht jedes Mittel recht sein kann. Ist es moralisch, wahllos Zivilisten anzugreifen, nachts eine ganze Stadt pauschal zu bombardieren, mit der erklärten Absicht, einfach möglichst viele Menschen umzubringen? Wohl kaum, das muß wohl als Verbrechen bezeichnet werden! Ein Verbrechen aber ist für eine Nation, die beansprucht, einen gerechten Krieg zu führen, kein zulässiges Mittel.

Das bedeutet, für die Briten ist der Luftkrieg gegen Deutschland ein moralischer Bankrott, wie es der Holocaust für die Deutschen ist?

Grayling: Zumindest haben wir unsere Verantwortung zu lange entschuldigt und verdrängt. Und zwar  erstens damit, daß wir den Krieg gewonnen haben und zweitens damit, daß die Nazis selbst große Verbrecher waren. Aber weder unser Sieg noch die Verbrechen der Nazis sind eine Entschuldigung für unser Handeln.

Glauben Sie, daß es ein unterschwelliges Wissen um das Unrecht des Bombenkrieges im Unterbewußtsein der Briten gibt?

Grayling: Nein, das glaube ich nicht, deshalb habe ich ja mein Buch geschrieben. Sehen Sie, wenn man den Leuten sagt, daß das Unrecht war, dann antworten sie, die Deutschen hätten uns das zuerst angetan. Das stimmt aber gar nicht! Das haben die Deutschen - mit Ausnahme der sogenannten Baedecker-Angriffe von April bis Juni 1942 - erst ab 1944, nämlich mit dem Einsatz ihrer V-Waffen getan, denn bis dahin war die deutsche Luftkriegsführung gegen England im Unterschied zum britischen Area-Bombing militärisch legitim.

Die kriminellen deutschen Baedecker-Angriffe waren dabei eine Reaktion auf die Aufnahme des neuen, totalen Vernichtungsbombenkriegs durch Großbritannien in Gestalt der Auslöschung Lübecks am 28./29. März 1942.

Grayling: Ja, die neue Direktive des britischen Bomberkommandos, die am 14. März 1942 erlassen wurde, hieß, Bombenangriffe müßten künftig die Moral des Gegners treffen, nicht mehr militärische oder industrielle Ziele, wie bislang. Deshalb suchte man sich eine Stadt aus, die weniger eine kriegswichtige Bedeutung hatte, als einfach gut in Brand zu schießen war: Das historische Lübeck. Allerdings war die britische Bomberwaffe damals noch vergleichsweise schwach. Wenn es in der Folge gelang, erstmals einen Tausend-Bomber-Angriff auf Köln zu fliegen, dann nur unter Mühen und weil das Bomberkommando wirklich alles zusammenkratzte, was fliegen konnte, nur um die Propaganda-Zahl 1.000 zu erreichen. Erst 1943 war die Luftrüstung so weit, daß die wirklich großen und schlagkräftigen Bomber vom Typ Lancaster, Halifax und Sterling in ausreichender Anzahl zur Verfügung standen. Das erste Ziel, das dann mit dieser neuen Bomberwaffe vernichtend angegriffen wurde, war Hamburg im Juli und August 1943, bezeichnenderweise unter dem Code-Wort "Gomorrha".

Hitler reflektierte seine Verbrechen nicht, Churchill dagegen schon. Wie ist das Phänomen Churchill zu erklären, der über seine Bombenkriegs-Untaten moralisierte und sie dennoch beging?

Grayling: Das ist tatsächlich eine bewegende Frage. Während des ganzen Krieges gab es widersprüchliche Äußerungen Churchills zum Area-Bombing. Mal äußerte er, man müsse die Deutschen auslöschen, dann wieder zeigte er sich tief erschrocken über unseren Bombenkrieg. Es ist bizarr, aber die Offiziere des Bomberkommandos, die den kriminellen Vernichtungskrieg gegen die deutschen Städte planten, waren keine Primitivlinge, im Gegenteil, sie waren gebildete Menschen. Der griechische Historiker Thukydides hat in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges beschrieben, wie die Bürger von Athen zu Beginn des Krieges die Vernichtung einer feindlichen Stadt beschließen, diese dann aber doch gnadenhalber verschonen. Zwei Kriegsjahre später kommt es zum Konflikt mit einer anderen Stadt. Diesmal ziehen die Athener los und töten ohne zu zögern die ganze Bevölkerung. Das ist es, was der Krieg mit einer Gesellschaft macht, wie er die Verhältnisse barbarisiert. 1939 war es britischen Bombern noch verboten, über kontinentales Festland zu fliegen, für den Fall, eine Bombe könnte sich versehentlich lösen und einen Menschen verletzen. Doch schon 1942 lautete die Direktive: Das Ziel der Bombenangriffe sind die Zivilisten! Erschütternd, nicht wahr? 

Hat Jörg Friedrichs "Der Brand" für Ihr Buch eine Rolle gespielt?

Grayling: Nein, ich habe so gut wie keine deutschen Quellen benutzt, denn es geht mir anders als Jörg Friedrich ja nicht darum, wie die Deutschen den Bombenkrieg erlebt haben, sondern darum, wie wir Briten ihn verantworten konnten. Später habe ich allerdings mit großem Interesse Friedrichs Buch gelesen und darin einen hochinteressanten Gedanken gefunden, den ich ebenfalls in meinem Buch verarbeitet habe, nämlich den der kulturellen Vernichtung: Wenn man eine Stadt auslöscht, dann vernichtet man nicht nur Menschen, sondern auch Erinnerungen, Traditionen, ein ganzes Erbe und darüber hinaus ihr historisches Gedächtnis, die Archive, Museen, Universitäten und Bibliotheken. Kurz, man vernichtet eine ganze Kultur! Dieser Aspekt des Bombenkrieges wurde meiner Meinung nach bislang immer vernachlässigt. Man muß dabei bedenken, daß die Frage für die Alliierten nicht nur lautete, "Wie gewinnen wir den Krieg?", sondern auch, "Wie sichern wir den Sieg danach?" Dafür gab es alle möglichen bizarren Vorschläge: Etwa Deutschland seiner industriellen Grundlagen zu berauben, so daß die Deutschen fortan die Existenz eines armen, aber harmlosen Bauernvolkes fristen würden. Oder alle deutschen Männer zu sterilisieren, so daß sich das Problem der Deutschen biologisch erledigen würde. Oder aber, alle deutschen Jungen zu verschleppen, und verteilt über das ganze britische Empire, zu gebildeten, höflichen Briten zu erziehen. Den totalen Bombenkrieg darf man dabei wohl nicht alleine als Antwort auf die erste Frage - wie der Krieg zu gewinnen sei - verstehen, sondern auch als einen Ansatz für die zweite: Wenn wir nicht nur ihre Menschen töten, sondern auch ihre Kultur ausbrennen, dann fehlt den Deutschen nach dem Krieg die kulturelle Grundlage, um in ihrer Tradition weiterzumachen. Die Vernichtung der Städte ist nicht nur Teil der Niederringung Deutschlands, sondern auch Teil einer endgültigen Lösung des deutschen Problems.

Dieses Trauma, die Auslöschung des historischen Antlitzes Deutschlands, ist auch das unterschwellige, aber eigentliche Thema von Friedrichs "Der Brand".

Grayling: Ja, ich halte "Der Brand", trotz der enormen Kritik daran bei uns, für ein unbedingt gerechtfertigtes Buch. Ich verstehe Friedrichs Wut. Wenn die Nazis ohne Area-Bombing effektiver bekämpft und die deutschen Zivilisten dabei hätten geschont werden können, dann ist doch die Nachfrage, warum das nicht geschehen ist, verständlich. Statt darüber nachzudenken, haben viele Briten sich lieber darüber aufgeregt, daß es ein Deutscher wagt, Großbritannien wegen der Bombardierung Deutschlands moralisch anzuklagen, wo Deutschland doch den Krieg begonnen habe. Es war absehbar, daß Friedrich damit Ärger provozieren würde. Denn er hat damit eben jene britische Nachkriegsstrategie, die eigene Schuld mit dem Deckmantel der Nazi-Verbrechen zu verhüllen, durchbrochen. Es war ziemlich mutig von ihm, vor wenigen Monaten hierher nach Großbritannien zu kommen und uns quasi klarzumachen, daß man so - auch nicht während der Nazi-Zeit - mit den Deutschen eigentlich nicht hätte umspringen dürfen. Der britische Philosoph Bertrand Russel hat einmal gesagt: "Die meisten Menschen würden lieber tot umfallen, als auch nur einmal nachzudenken." Solchen Leuten, die nicht im geringsten bereit sind zu reflektieren und zu sezieren, die Dinge voneinander zu scheiden, war er hier bei seinen Auftritten ausgesetzt.

Friedrich vergleicht  - unterschwellig, aber sehr auffällig - den Vernichtungsluftkrieg Großbritanniens mit der Vernichtungsaktion des Holocaust. Sie lehnen so einen Vergleich allerdings ab.

Grayling: Ich halte es für sehr wichtig - ebenso, wie den kriminellen Charakter des Area-Bombing zu sehen -, die Unterschiede zum Holocaust zu erkennen. Ausmaß und Durchführung des Holocausts lassen ihn zu einem Verbrechen wesentlich höherer Ordnung werden, als es der britische Luftkrieg gegen Deutschland war. Ich habe das auch in meinem Buch thematisiert: Gibt es einen Unterschied, mit Gas oder Maschinengewehr Frauen und Kinder zu ermorden, oder aus vielen Kilometern Höhe eine Bombe auf eine Stadt zu werfen? Ja, den gibt es: Die Person, die so eine Bombe wirft, kann auf Grund der großen Distanz die Augen vor den moralischen Konsequenzen verschließen, was dagegen unmöglich ist, wenn man auf Frauen und Kinder anlegt, die einem Aug in Aug gegenüberstehen. Das ist ein altes kulturelles Muster, Abstand zum Opfer zu gewinnen, denn wer es nicht berührt, lädt auch keine Blutschuld auf sich. Aus der Perspektive der modernen Moral freilich kann das nicht mehr gelten, hier sind die moralischen Konsequenzen die gleichen. Aus Sicht der modernen Moral spielt aber beim Holocaust vor allem die Tatsache der industriellen Vernichtung und Vernutzung der Opfer eine entscheidende Rolle.

Friedrich argumentiert - nicht ausdrücklich, sondern in dem er nahe legt -, der Einsatz eines technischen Instruments wie der britischen Bomberflotte, die Verwendung einer speziellen Technik um gezielt einen abgesteckten Raum - eine Stadt - in ein Super-Krematorium zu verwandeln, mit dem Ziel der totalen Extermination aller Insassen, sei ebenfalls ein industrielles Verfahren. Mit dem Unterschied, daß beim Holocaust die Opfer zu den Todesfabriken, im Bombenkrieg die fliegenden Todesfabriken zu den Opfern kamen.

Grayling: Es ist richtig, daß es sich in beiden Fällen um kaltgeplanten, industriellen Massenmord handelt. Stalin sagte einmal zynisch, tötet man einen Menschen, sei das eine Tragödie, tötet man eine Million, sei es nur ein Faktum der Geschichte. Deshalb ist es sehr wichtig, den Blick nicht nur auf formale Charakteristika zu richten, sondern auch auf Zahlen und Motive. Ein Argument derer, die den britischen Bombenkrieg gegen Deutschland verteidigen, ist, daß der Gegner, gegen den wir damals gekämpft haben, so schrecklich war, daß es ein größeres Verbrechen gewesen wäre, den Krieg zu verlieren, als ihn so zu führen, wie wir ihn geführt haben. Darüber kann man diskutieren. Ich habe meine Meinung dazu dargestellt. Und ich stimme auch Jörg Friedrich zu, daß die Verwandlung einer Stadt in ein Krematorium ein schreckliches Verbrechen ist. - Aber: Über die Frage, ob man nicht vielleicht Frauen und Kinder vergasen darf, um seinen Rassekrieg zu gewinnen, darüber kann man nicht diskutieren!

Der israelische Historiker Martin van Creveld sagt, der Holocaust habe zwei Opfer: die Juden, die durch die Morde, und die Deutschen, die durch die Schuld traumatisiert sind. Besteht nicht die Gefahr, daß die Aufarbeitung des Bombenkriegs langfristig ebenso zu einer tiefgreifenden Schädigung des britischen kollektiven Unterbewußtseins führen wird?

Grayling: Das glaube ich nicht. Im Gegenteil, die Realität anzuerkennen und sich seinen Fehlern zu stellen, ist geradezu eine Voraussetzung für ein gesundes kollektives nationales Bewußtsein. Als der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder im Sommer 2004 zu den Jubiläumsfeierlichkeiten für die Invasion von 1944 in die Normandie reiste, sagte er dort, auch Deutschland sei Opfer der Nazis gewesen. Die Deutschen haben sich dieser Realität gestellt.

Mancher Deutscher erhofft sich von Ihrem Buch Gerechtigkeit für Deutschland. Das aber ist nicht Ihre Intention.

Grayling: Mein Buch wendet sich, wie gesagt, nicht in erster Linie an die Deutschen, sondern an die Briten. Es geht mir um die Lektion, die wir zu lernen haben.

Können Sie verstehen, daß mancher Deutscher darüber enttäuscht ist?

Grayling: Es gibt so viel Unrecht in Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg, das nicht aufgearbeitet ist: Denken Sie nur an die Juden oder die deutschen Vertriebenen. Oder denken Sie an die Debatte um die Sklaverei, wo auch erörtert wird, wie das wiedergutgemacht werden kann. Natürlich war die Sklaverei ein großes Verbrechen, aber wenn es uns damit ernst ist, dann sollten wir unsere Anstrengungen vor allem darauf richten, zu verhindern, daß so etwas heute wieder passieren kann. Das ist es auch, was wir aus dem Bombenkrieg lernen sollten.

 

Prof. Dr. Anthony C. Grayling lehrt Philosophie am Birkbeck Collage der Universität London. Er ist Verfasser zahlreicher Bücher und schreibt regelmäßig für Zeitungen wie die Financial Times, The Economist, The Observer, Times Literary Supplement oder die BBC. Er ist Mitglied der Royal Society of Arts und gehörte der Jury des renommierten Booker-Preises an. Geboren wurde Grayling 1949 im südostafrikanischen Sambia. 

 

Bombenkrieg: Den ersten Luftangriff der Geschichte flogen 1849 österreichische Heißluftballons auf Venedig. Seitdem werden drei Kategorien unterschieden: Legitime Punktzielangriffe auf militärische oder industrielle Ziele (zivile "Kollateralschäden" möglich) und illegitime Terrorangriffe (wahlloses Bombardieren ziviler Ziele) und Flächenbombardements ("Area-Bombing": Die planvolle, vollständige Auslöschung ziviler Ziele). 

 

A.C. Grayling: Die toten Städte

Mit seiner umfassenden Studie "Die toten Städte. Waren die alliierten Bombenangriffe Kriegsverbrechen?" (C. Bertelsmann, 2007) initiierte der Londoner Moralphilosoph und Publizist Anthony Grayling in Großbritannien eine erbitterte Debatte (JF 17/07) um den totalen Bombenkrieg gegen Deutschland 1942 bis 1945. Wie Jörg Friedrich 2002 mit "Der Brand" hierzulande, brach Grayling in England ein Tabu. Angeheizt wurde die Diskussion zusätzlich durch das fast zeitgleiche Erscheinen von Friedrichs Buch auf englisch (JF berichtete). Graylings "kluges" (taz), "überfälliges" (Die Zeit) und "exzellentes" (ARD) Buch legt nach sechzig Jahren Hand an ein britisches Nachkriegs-Tabu: Die Strategie der gezielten, massenhaften Ermordung deutscher Zivilisten durch die britische Luftwaffe sei weder mit dem Argument der Vergeltung, noch dem der NS-Verbrechen zu rechtfertigen, sondern sei, so der Autor, ein Akt der Barbarei und ein Kriegsverbrechen.    

Foto: Das von den Alliierten völlig zerstörte Köln 1945: "Wenn wir nicht nur ihre Menschen töten, sondern auch ihre Kultur ausbrennen, dann fehlt den Deutschen nach dem Krieg die kulturelle Grundlage um in ihrer Tradition weiterzumachen. Die Vernichtung der Städte ist nicht nur Teil der Niederringung Deutschlands, sondern auch Teil einer endgültigen Lösung des deutschen Problems"

 

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