© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/07 20. Juli 2007

Alles im Sinne des Vaterlands?
Der "20. Juli" unter der Anklage des Landesverrats
Rainer Dürkopp

Vor "bösen Worten", so Margret Boveri Mitte der fünfziger Jahre, solle man nicht zurückschrecken. In der Bewertung des "20. Juli" sei daher auf die "ehrliche, wahrheitsgemäße Anwendung" des Wortes "Verrat" nicht zu verzichten.

Das seit 1871 geltende Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches stellte gemäß Paragraph 89 (Landesverrat) demjenigen ein Todesurteil in Aussicht, der "es unternimmt, ein Staatsgeheimnis zu verraten". Das gleiche drohte Paragraph 80 dem Hochverräter an, der "es unternimmt, durch Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt die Verfassung des Reichs zu ändern". Beide Tatbestände finden sich in den entsprechenden Strafvorschriften des europäisch-amerikanischen Kulturkreises vor und nach 1945, natürlich auch im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik, das beide Verratsdelikte allerdings nicht mehr mit der Todesstrafe ahndet.

Daß jene Planungen, die schließlich am 20. Juli 1944 zu dem Versuch führten, den Führer und Reichskanzler des Großdeutschen Reiches mit einer Bombe zu töten, um dann mitten im Krieg eine neue Staats- und Verfassungsordnung zu etablieren, strafrechtlich mühelos als Akte des Hochverrates zu qualifizieren sind, bedarf keiner Erörterung. An dieser Einstufung entzündete sich nach 1945 auch niemals eine geschichtspolitische Debatte. Anders steht es mit der Frage, ob die Hoch- auch Landesverräter waren. Der Landesverrat, dies ist im Sinne Margret Boveris das eigentlich "böse Wort".

Die "Mutter" aller Diskussionen um die "Schuld des Widerstands" ist in den Akten des Braunschweiger Remer-Prozesses vom März 1952 anzutreffen. Angeklagt war Generalmajor a. D. Otto Ernst Remer (1912-1997), am 20. Juli 1944 Kommandeur des Wachregiments in Berlin. Als solcher war er entscheidend daran beteiligt, daß der durch das Bombenattentat im Führerhauptquartier ausgelöste Umsturzversuch der Offiziere um Claus Schenck Graf von Stauffenberg schon im Ansatz scheiterte. Remer hatte 1951 mit Blick auf Stauffenberg und seine Mitverschworenen öffentlich geäußert: "Diese Verschwörer sind zum Teil in starkem Maße Landesverräter gewesen, die vom Auslande bezahlt wurden."

Wegen übler Nachrede und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener erstatteten Angehörige von Widerstandskämpfern Strafanzeige. Die Anklage vor dem Braunschweiger Landgericht vertrat Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, ein 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft emigrierter Amtsrichter, der in die Geschichte der westdeutschen Justiz als konsequentester Strafverfolger von "NS-Verbrechern" eingegangen ist.

Bauers Plädoyer in der Strafsache Remer artete zum rechtsphilosophischen Kolleg über Fragen von Legitimität und Legalität, Verrat und Widerstandsrecht aus, das die Tat des 20. Juli nicht einmal als Hochverrat gelten lassen wollte. Eine "Argumentation, die wenig Überzeugungskraft besaß", wie vierzig Jahre später der Braunschweiger Präsident des Oberlandesgerichts, Rudolf Wassermann, in seinem Prozeß-Rückblick urteilte. In diesen Passagen des Plädoyers bezog sich Bauer, gestützt auf theologische und staatsrechtliche Gutachten, auf ein naturrechtliches Ideologem, das seitdem zum Rettungsanker aller Begriffskrieger im Kampf um die "Legitimität" des "20. Juli" und jeglichen "Widerstands" gegen das nationalsozialistische Verfassungsgefüge geworden ist: auf die Formel vom "Unrechtsstaat". Anders als ein "Rechtsstaat", so Bauer, sei ein "Unrechtsstaat" gar nicht "hochverratsfähig". Ihm gegenüber könne man auch keinen Landesverrat begehen, da er keinen Anspruch auf Treue seiner Staatsbürger habe.

Wer sich in dieses Sprachspiel einlebt und daraus Sinn und Orientierung gewinnt, für den stellte sich die rein "legalistische" Frage nach dem Verratscharakter des Widerstands im NS-Staat nicht mehr. Auf dieser Basis, im Rekurs auf das "moralisch", übergesetzlich Legitime, ließ sich ins Werk setzen, was mit der Aufhebung der "NS-Terrorurteile" des Volksgerichtshofes durch einen Bundestagsbeschluß am 25. Januar 1985 seinen Anfang nahm und in den letzten Monaten der Ära Kohl, im Mai 1998, im Parlamentsentscheid über die "pauschale" Aufhebung aller "NS-Unrechtsurteile" endete. Von der Warte eines solchen moralistischen Extremismus kann es daher heute eine Verratsproblematik im geschichtspolitischen Diskurs über den Widerstand im Dritten Reich gar nicht mehr geben.

Nur wer sich einer derart radikalen Depolitisierung deutscher Geschichte zwischen 1933 und 1945 entzieht, für den hängt vom "bösen Wort" Landesverrat noch das historische Urteil über Stauffenberg und seine Mitstreiter ab.

Auch Generalstaatsanwalt Bauer wollte 1952 diesen Vorwurf Remers nicht plump naturrechtlich ersticken. Vielmehr versuchte er ihn in einer durchaus eng legalistischen Auslegung zu entkräften: die Männer des deutschen Widerstands hätten deshalb keinen Landesverrat begangen, weil sie nicht mit dem Vorsatz handelten, das Wohl des Reiches zu gefährden. Wer wie Stauffenberg vor seiner Hinrichtung ausrufe "Es lebe das heilige Deutschland", könne wohl nie anderes im Sinn gehabt haben, als dem Vaterland zu dienen. Nicht um dem Reich Nachteile zuzufügen, sondern um von der "Kriegsmacht des Reiches" weitere Nachteile abzuwenden, ja um durch Kriegsverhinderung und dann Kriegsverkürzung deutsche "Weltgeltung" zu bewahren, hätten Widerstandszirkel seit 1938 gehandelt.

Nicht das geschichtspolitisch bald zentral werdende, ahistorische Konstrukt des "Unrechtsstaates", sondern diese konventionell-strafjuristisch auf den Tatbestand des Landesverratsdelikts ausgerichtete Subsumtion führte zu Remers (milder) Verurteilung.

Sie eröffnete jedoch zugleich einen bis heute - unterhalb jener zur Staatsideologie geronnenen "Hypermoral", die die "Befreiten" inzwischen zur Teilnahme an Siegesfeiern treibt -, eifrig frequentierten Tummelplatz "revisionistischer" Geschichtspublizistik. Denn darüber, ob die diversen Widerstandskreise tatsächlich nur das "Wohl des Reiches" im Sinn hatten, läßt sich trefflich streiten. Und natürlich darüber, wer dieses Wohl definieren darf, wem man die bessere Einsicht in Mittel und Wege zutraut, es zu erreichen.

Im wesentlichen sind es drei mit Hingabe beackerte Felder, auf denen nach Material dafür gesucht wird, um "Widerständlern" ihre Absicht, dem Reich zu schaden und es an seine Feinde zu verraten, nachzuweisen. Zum einen die vom Auswärtigen Amt (AA) seit 1937/38 ausgehenden, unter Duldung des Staatssekretärs Ernst von Weizsäcker unternommenen Versuche, die englische Regierung zu einer "festen Haltung" gegenüber Hitlers Revisionspolitik zu bewegen. Die Brüder Theo und Erich Kordt geben hierbei regelmäßig die Schurken vom Dienst, in zweiter Reihe politische Handlungsreisende wie Ewald von Kleist-Schmenzin, Adam von Trott zu Solz und der manische Denkschriftenproduzent Carl Friedrich Goerdeler. Damit, so das klassische Werk in diesem Segment der "Verrats"-Literatur, Annelies von Ribbentrops "Verschwörung gegen den Frieden" (1962), hätten die Gegner Hitlers, das seit Bismarcks Zeiten altvertraute "innere England", Großbritannien zum Krieg gegen Deutschland aufgestachelt, weil sie nur in einer solchen außenpolitischen Konstellation ihre Chance zum Sturz des NS-Regimes sahen.

Unter den etablierten Zeithistorikern wies Klemens von Klemperer die Ausgangsthese der Witwe des deutschen Außenministers, wonach Joachim von Ribbentrop und sein Chef 1938/39 nur Friedenspolitik getrieben hätten, selbstverständlich zurück ("Die verlassenen Verschwörer", 1994). Aber daß jene Emissäre ohne Auftrag, die sich in London die Klinke in die Hand gaben, "nahezu an Verrat grenzende Annäherungsversuche" machten, darüber läßt von Klemperer, der offenbar in diesem Aufputschen der Briten kein Handeln zum "Wohl des Reiches" erkennen will, keinen Zweifel.

Zweitens, und am wenigstens umstritten, ist der Komplex "Schwarze Kapelle", die Mischung aus Landes- und Hochverrat, die für den militärischen Geheimdienst, der "Abwehr" des Admirals Wilhelm Canaris, eigentümlich war. Dessen Amtschef, Oberst Hans Oster, verriet die Termine der deutschen Angriffe an der Westfront sowie für die Invasion Dänemarks und Norwegens dem holländischen und dänischen Militärattaché. Oster gibt, neben den moskautreuen Angehörigen der "Roten Kapelle" oder dem zu "Joschka" Fischers Zeiten zum Hausheiligen des Auswärtigen Amtes ernannten Diplomaten Fritz Kolbe, der dem US-Geheimdienst "lohnende" Bombenziele im Reich verriet, den Prototyp des Landesverräters im Gruppenbild des deutschen Widerstands ab.

In einer Kette grob gestrickter Anklagebücher, von Karl Balzers "Der 20. Juli und der Landesverrat" (1967) über Remers "Verschwörung und Verrat um Hitler" (1981)bis zur jüngsten Kolportage Hans Meisers über die "Schuld des 'Widerstandes' an Ausbruch und Ausgang des Zweiten Weltkrieges" ("Verratene Verräter", 2006), figuriert Oster als der "bad guy", der am klarsten formulierte, daß das "Wohl des Reiches" für ihn gleichbedeutend war mit der Zerschlagung des nationalsozialistischen Deutschland. Untergangswünsche, die auch einem Dietrich Bonhoeffer nicht fremd waren.

Schließlich richtete sich der Landesverratsvorwurf drittens hartnäckig gegen die Militäropposition, aus der Henning von Tresckow und Stauffenberg ab 1942/43 als die zu Attentat und Staatsstreich drängenden Protagonisten herausragen. Regelmäßig eng verzahnt mit den in ihren Händen liegenden Vorbereitungen zur Tötung Adolf Hitlers erscheinen damit die gleichzeitig an West- wie Ostfront, in der Normandie und in Westrußland, erlittenen schweren Niederlagen der deutschen Wehrmacht im Juni/Juli 1944. Diese Niederlagen auf das Konto des "Verrats" der Militäropposition zu buchen, ist ein dauerhaftes Anliegen von Autoren wie David Irving, dessen Rommel-Biographie (1978) wiederum Arbeiten inspirierte wie "Der verratene Sieg. Die Invasion in der Normandie 1944" von Hrowe Saunders (1984), Ewald Klapdors "Die Entscheidung. Invasion 1944" (1984) oder zuletzt Friedrich Georgs "Verrat in der Normandie. Eisenhowers deutsche Helfer" (2007).

Der Hauptverräter heißt hier stets Hans Speidel, Rommels Stabchef und ein Exponent des "Verschwörernestes" in Paris. Anders als bei Tresckow, wo die Beweislage für seine Verantwortung am Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte dürftig ist, gibt es bei Speidel Indizien, die sein komplettes Versagen bei der Landung allierter Truppen in der Normandie am 6. Juni 1944, dem "D-Day" der Angloamerikaner, aus dem strategisch aberwitzigen Kalkül der Stauffenberg-Gruppe erklären, die Front im Westen zu öffnen, um nach gelungenem Hitler-Attentat eine Teilkapitulation und einen Sonderfrieden auszuhandeln.

Obwohl Winfried Mönch ("Entscheidungsschlacht 'Invasion' 1944?", 2001) aus "etablierter" Sicht diese "Hatz gewisser Kreise auf Speidel" nicht zu Unrecht als verschwörungstheoretisch aufgeladen kritisiert, bleiben auch bei ihm offene Fragen, will man nicht alles einfach Speidels Schlendrian zuschreiben. Ungeachtet dessen ist aber unverkennbar, daß die (wenn auch illusionäre) Intention dieser Landesverrat erfordernden "Westlösung" noch auf eine Rettung der "Substanz" des Reiches und damit auf seine politische Handlungsfähigkeit gerichtet war - obwohl Stauffenberg wie Goerdeler sich bereits im Frühjahr 1944 im Grunde mit der Unumgänglichkeit der "bedingungslosen Kapitulation" abgefunden hatten.

Wenn auch über das Ausmaß des Landesverrats das letzte Wort der Forschung noch nicht gesprochen ist, bleibt unbestreitbar, daß der objekte Verratstatbestand vielfach erfüllt wurde. Aber über die fehlende subjekte Seite, den Vorsatz, das Reich schädigen zu wollen, kommt nur hinweg, wer noch 2007 als Historiker allein dem Staatsoberhaupt Adolf Hitler zugesteht, das Wohl des Reiches definieren zu dürfen. Dann mußte selbst im Sommer 1944 jede alternative Konzeption zu seiner Politik der "wehrhaften Selbstbehauptung" (Roland Freisler) dem Reichswohl abträglich sein und konnte dem NS-Reich nur Nachteile zufügen wollen. Unter dieser ideologischen Prämisse, die sie freilich nie explizieren, klagen die Remer, Balzer, Saunders, Irving, Meiser, Friedrich et al. den Widerstand gegen Hitler zu Recht des Landesverrats an.

 

Fotos: Hinrichtungsbalken in Berlin-Plötzensee. Hier wurden unter anderem 1944 viele Todesurteile gegen Angehörige des Widerstands vollstreckt, darunter an Berthold Schenk Graf von Stauffenberg, Erwin von Witzleben, Erich Hoepner, Graf Yorck von Wartenburg und Adam von Trott zu Solz. Im Januar 1945 wurden in Plötzensee Helmuth James Graf von Moltke und andere Mitglieder der Widerstandsgruppe "Kreisauer Kreis" gehängt. Seit 1952 befindet sich an diesem Ort eine Gedenkstätte; Gedenkstätte Berlin-Plötzensee (Bild links und unten); Außenansicht der Gedenkstätte Plötzensee


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