© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/07 20. Juli 2007

Zeugnisse der Optionslosigkeit
Das Reichssicherheitshauptamt zeigte sich nach dem 20. Juli an den außenpolitischen Konzepten der Verschwörung interessiert
Doris Neujahr

Unmittelbar nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 setzte der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, SS-Obergruppenführer Ernst Kaltenbrunner, auf Weisung Hitlers eine Sonderkommission ein. Ihr gehörten etwa 400 Beamte der Kriminalpolizei und der Gestapo an, die in elf Gruppen gegliedert waren. Ihre Informationen faßten sie in den sogenannten Kaltenbrunner-Berichten zusammen, die Hitler umgehend vorgelegt wurden. Kaltenbrunner hatte den Beamten die Richtlinie erteilt, nicht nur die strafrechtlichen Tatbestände festzustellen, sondern auch ein schonungsloses Bild von den Gründen zu geben, die die Verschwörer zum Handeln veranlaßt hatten. Er hoffte, damit bei Hitler einen Schock auszulösen und ihn zur Änderung seiner Politik zu veranlassen.

Der SS-Führung stand zu diesem Zeitpunkt längst die Kriegsniederlage vor Augen, die ohne einen Wechsel in der Kriegsführung jedenfalls unausweichlich sein würde. Natürlich fehlte es in den Berichten nicht an Schmähungen der "Verschwörerclique", trotzdem überwiegt der Eindruck, daß es sich auch in den Augen der Beamten um eine Elite handelte, die sich Sorgen um den drohenden Untergang des Landes machte. Laut dem Historiker Gerhard Ritter äußerte ein Gestapo-Mann: "Daran ist kein Zweifel, daß Sie und Ihre Freunde gute Deutsche sind. Aber Sie sind Gegner des Systems, darum müssen wir Sie vernichten." Die Berichte sind 1961 auf knapp 600 Seiten unter dem Titel "Spiegelbild einer Verschwörung" in einem kleinen Stuttgarter Verlag erschienen und merkwürdigerweise seither nicht mehr neu ediert worden.

Die Kommission war auch aus Eigeninteresse begierig, die außenpolitischen Konzepte der Verschwörer zu erfahren. Der erste Bericht (vom 24. Juli) gilt vor allem einer Ausarbeitung, die Stauffenberg im Berliner Bendlerblock verloren hatte und die weder Datum noch Unterschrift trug. Rasches Handeln sei nötig, hieß es darin, denn die stete Verschlechterung der militärischen Lage reduziere auch die politischen Möglichkeiten. Man hoffte auf die Einsicht Englands, daß der deutschen Niederlage das Vordringen Rußlands bis an den Atlantik folge. Die sozialistische Arbeiterschaft, eine radikalisierte Jugend und ausländische Arbeiter würden die Bolschewisierung Deutschlands herbeiführen.

Damit wäre Englands "Balance of power" am Ende. "Die einzige Möglichkeit sei daher ein ehrenvoller Friede ohne Besetzung, ohne Gebietsabtretungen, Kriegskontributionen, ohne politische Einkreisung und wirtschaftliche Fessel. Allenfalls könne an die Abtretung Ostpreußens als Kompensation an Polen gedacht werden sowie an eine Unabhängigkeitserklärung Österreichs." Ein ehrenvoller Friede würde Krieg auf lange Zukunft ausschließen. Allerdings stünde dem eine englische Neigung entgegen, Deutschland als unverbesserlich aggressiv anzusehen und die Verleugnung der Tatsache, daß England gegenüber den USA zweitrangig geworden sei. Wie der gordische Knoten zerschlagen werden konnte, darüber fand sich nichts in dem Papier.

Der Bericht vom 31. Juli faßt Adam von Trotts Aussagen über seine Gespräche mit Stauffenberg zusammen. Trott habe Stauffenberg dargelegt, daß "ein ehrlicher Verständigungswille" bei den Angelsachsen nicht vorhanden sei und man an der bedingungslosen Kapitulation festhalte. Er empfahl eine Zusammenarbeit von Wehrmacht und SS, weil die SS politisch elastischer denke, die Generäle hingegen auf das Militärische fixiert seien. Stauffenberg dagegen meinte, die anglo-amerikanische Sorge um ein Vordringen der Sowjets sei so groß, daß man die offizielle Regierungspolitik nicht wörtlich nehmen solle. Er hoffte auf die bessere Einsicht der feindlichen Militärs, dachte an eine Einstellung der Kampfhandlungen gegenüber dem englischen Oberkommando ohne Einschaltung der Regierungen. Trott habe Stauffenbergs Plan so zusammengefaßt: "Entweder hat Stauffenberg über eine solche Möglichkeit bestimmte Inspirationen der Gegenseite gehabt, oder er habe mit seiner Tat 'außenpolitisch ins Nichts gehandelt'". Einig waren sich beide darin, daß das Nationalkomitee deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion nur Propagandaeffekte für die Feinde lieferte. Stauffenberg war strikt gegen solche "Proklamationen hinter Stacheldraht".

Ein weiterer Bericht gilt der außenpolitischen Denkschrift des Hauptmann Hermann Kaiser. Danach sollten alle Deutschen in einem Nationalstaat mit starker Wehrmacht zusammengefaßt bleiben. Deutschland sollte Europas Führungsmacht sein, einen großen Wirtschaftsraum beherrschen und über ein geschlossenes Kolonialgebiet in Afrika verfügen. Wie sollte England dafür gewonnen werden? Kaiser glaubte: "Diese Verständigung reift aus der europäischen Arbeitsgemeinschaft ganz organisch heran", durch Wirtschaftsaustausch würde das Vertrauen wiederhergestellt werden. "Auf diesem Wege eröffnen sich einer schöpferischen aber doch verständigen und bescheiden auftretenden deutschen Führung ungeahnte Möglichkeiten des Einflusses auch in anderen Erdteilen."

Die Gestapo kommentierte: "Es ist das das Eigenartige, daß einem ungehemmten Pessimismus hinsichtlich der außenpolitischen und militärischen Lage unter der Führung Adolf Hitlers ein ebenso ungehemmter Optimismus für die Zeit nach der Beseitigung des Führers gegenübersteht. Die Erfahrungen der Jahre 1918 bis 1930, in denen alle friedlichen Verhandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft worden sind, sind an den führenden Köpfen der Verschwörerclique spurlos vorübergegangen. (...) Der Verfasser der Denkschrift kennzeichnet sich damit als ein Illusionist, der alles Heil von einer humanitären Einsicht aus dem freien Welthandel erwartet." Bei den Verschwörern seien "die außenpolitischen Vorstellungen völlig illusionistisch und fern aller Gegebenheiten der jetzigen Weltsituation".

Aus der politischen Ausweglosigkeit traten die Verschwörer die Flucht nach vorn an in das moralische Bekenntnis, wobei die Hoffnung mitschwang, dieses würde ihnen politisch honoriert werden. In den Kaltenbrunner-Berichten wird aus den vorbereiteten Erlassen und Proklamationen zitiert: Der Krieg sei "von (vermutlich) Hitler und Genossen entfesselt" worden, es gäbe deutscherseits "phantastische Pläne grenzenloser Eroberung", die deutschen Soldaten kämpften "für Verbrechen, Terror und Schmach" usw. Solche Aussagen bestätigten die alliierten Propagandathesen und würden "allein genügen, dem Ausland als bündiges Eingeständnis der deutschen Kriegsschuld zu dienen und zweifelsohne die Grundlage für eine neue Kriegsschuldlüge und eine darauf aufbauende Versklavung Deutschlands abgeben. (...) Alles, was die feindliche Agitation über Deutschland und seine inneren Verhältnisse in den letzten Jahren böswillig ausstreute, wird von den Verschwörern als absolut wahr und zutreffend hingenommen". Sie sähen nicht, "daß es sich bei diesem Krieg um einen Machtkampf handelt, der sich gegen ein starkes Deutschland" richtet, gleichviel in welcher Staatsform und mit welchem weltanschaulichen Gehalt es aufträte. Schließlich sei eine angebliche "Volksvergottung" die Ursache des Krieges.

"'Wir wissen noch nicht, wie sich das Ausland zu uns stellt.' Mit diesen Worten wollte Goerdeler am Mikrofon zum deutschen Volk und zur Welt sprechen, wenn er nach der Übernahme der Macht die Möglichkeit zu der geplanten Aussprache hatte." Der als Reichskanzler vorgesehene Carl Goerdeler hielt viel auf seine Verbindungen nach England  und schätzte die Wirkung seiner Persönlichkeit bei künftigen Verhandlungen mit den Westalliierten hoch ein. Helmuth James Graf von Moltke dagegen dachte gering über Goerdelers englische Kontakte. "Meine Informationen über Dr. Goerdeler stammten vor allem aus London, wo ich wußte, daß er mit ganz reaktionären Citykreisen, die nach meiner Auffassung gar keinen Einfluß auf die englische Politik hatten, in Verbindung gestanden und mit ihnen Deutschland betreffende Fragen besprochen hatte. Dies schien mir ein solcher Mangel an Urteilsfähigkeit zu sein, daß ich von vornherein auch gegen den Ehrgeiz dieses Mannes, eine führende politische Stellung einzunehmen, Bedenken hatte."

Die Gestapo unterstellte sogar eine unheilvolle Dialektik der Auslandskontakte des deutschen Widerstands: "Das Hinausströmen oppositioneller Elemente ins Ausland, die im Ausland aus ihrer gegnerischen Haltung kein Hehl machten und ausländische Kreise über die bestehenden Gegnergruppen in Deutschland eingehend unterrichteten, haben die Hoffnung der Feinde auf einen inneren Zusammenbruch Deutschlands immer wieder genährt und wachgehalten und damit die Hoffnung der Gegner auf einen schnellen Sieg ohne entscheidenden Endkampf immer wieder zum Schaden des Reiches gestärkt."

Mit einer gewissen Enttäuschung wurde festgestellt, daß die Verschwörung des 20. Juli überhaupt nicht "in den politisch-militärischen Planungen der Feinde einkalkuliert war. Offenbar ist auf seiten der Feindmächte bis zuletzt nicht ernsthaft damit gerechnet worden, daß der Anschlag auf den Führer und den nationalsozialistischen Staat von deutschen Offizieren und als national geltenden Männern wirklich versucht werden würde". Die Verschwörer hätten "auch nicht über einen einzigen neuen fruchtbaren und konstruktiven Gedanken" verfügt.

Wahr ist, daß sie an der angelsächsischen Übermacht und Intransigenz scheiterten, scheitern mußten. Die einzige Möglichkeit, der bedingungslosen Kapitulation zu entgehen, wäre eventuell eine Verständigung mit Rußland gewesen, die der von Haus aus anglophile Adam von Trott ganz zum Schluß favorisierte. Aber wäre das am Ende nicht gleichfalls eine Handlung ins außenpolitische Nichts gewesen? Diese Optionslosigkeit macht das Zögern des deutschen Widerstands, das ihm heute vielfach als moralisches Versagen vorgeworfen wird, verständlich. Für den Fall eines erfolgreichen Attentats drohte ihnen, statt der NS-Führung selber die totale Niederlage vollziehen zu müssen und damit in den Ruch zu geraten, Deutschland das Schicksal, das sie ihm ersparen wollten, überhaupt erst bereitet zu haben.

Foto: US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premier Winston Churchill fordern in Casa-blanca die bedingslose Kapitulation Deutschlands, 14. Januar 1943: Hoffnung auf bessere Einsicht


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen