© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/07 13. Juli 2007

Deutschlands kaiserliche Modernisierung
Der Historiker Wolfgang König analysiert den Aufstieg von Technik und Industrie unter Kaiser Wilhelm II.
Dag Krienen

Die Person und die politische Rolle Wilhelms II. gehören seit einigen Jahren wieder zu den intensiver beackerten Feldern der historischen Forschung. Nun hat auch der Berliner Technikhistoriker Wolfgang König ein Buch über "Wilhelm II. und die Moderne. Der Kaiser und die technisch-industrielle Welt" vorgelegt, das sich als ein Beitrag zur Debatte um das letzte Oberhaupt des zweiten Deutschen Kaiserreichs versteht. Aber auch wenn der Verfasser in der Einleitung von "meiner Biographie Wilhelms II." spricht, handelt es sich nicht um eine biographische Studie im eigentlichen Sinne. Die Verlagsanzeige hat diesen Anspruch klugerweise reduziert auf eine "spannende Teilbiographie", im ansonsten mit der Anzeige wortgleichen Klappentext ist sogar nur von einem "spannenden Buch" die Rede.

Um ein solches handelt sich bei dem zu rezensierenden Werk tatsächlich, wenn man dem reduzierten Anspruch und wohl auch den tatsächlichen Intentionen seines Verfassers Rechnung trägt. Das Buch Königs stellt den - insgesamt gelungenen - Versuch dar, die Stellung des Kaisers zur technisch-industriellen Welt erstmals systematisch aufzuarbeiten. Wilhelm II. war, was schon seinen Zeitgenossen auffiel, wie kaum ein anderes deutsches Staatsoberhaupt vor ihm oder nach ihm an der technischen und industriellen Modernisierung des Landes im doppelten Sinne interessiert: er sog nicht nur alle Nachrichten über erzielte technische Innovationen förmlich auf, sondern bemühte sich in vielen Bereichen auch, sie nach Kräften zu fördern. Mit dieser so "modernen" Seite des Kaisers kontrastieren auffällig seine rückständig anmutenden verfassungspolitischen Ansichten, insbesondere der Anspruch auf Gottesgnadentum und ein halbabsolutistisches "persönliches Regiment". Bislang wurde dies als einer der typischen Widersprüche einer in sich zerrissenen Persönlichkeit abgetan und die "modernen" Seiten des Kaisers kaum jemals systematisch in den Blick genommen. Indem er genau dies nachholt, kann König nicht nur das diesbezügliche Defizit in der Forschung beseitigen, sondern auch die affirmative Einstellung Wilhelms II. zur technisch-industriellen Seite der "Moderne" in den Kontext des so archaisch anmutenden politischen Selbstverständnisses des Monarchen einordnen.

Für Wilhelm II. stellte die Förderung von angewandter Wissenschaft, Technik und Industrie keinen Gegensatz zu seinem königlich-kaiserlichen Selbstverständnis als Hohenzollern-Herrscher dar. Abgesehen davon, daß er insgesamt technischen und industriellen Fortschritt als unumgängliche Voraussetzung der politischen Selbstbehauptung und Machtentfaltung "seines" Staatswesens begriff - was viele Mitglieder der überkommenen preußischen Führungsschichten durchaus nicht taten -, speisten sich die technischen Interessen des Kaisers offensichtlich aus drei Quellen. Zum einen liebte er das "Spektakuläre", allerdings nicht nur im bloß unterhaltenden Sinne, sondern auch, um sich im Glanz von Zeppelinen, Schlachtschiffen und anderen großartigen Industriewerken als augenfälligen "Repräsentationen" des "Ruhms" seines eigenen Regnums zu sonnen.

Zum zweiten interessierte er sich nicht gleichmäßig für alle technischen Felder, sondern insbesondere für solche, mit denen er in seiner eigenen Lebenswelt in Berührung kam oder für die er früh ein Faible entwickelt hatte. Und zum dritten bildeten bestimmte technisch-industrielle Aktivitäten ein zentrales Element in seiner dynastischen Traditionspflege als würdiger Nachfolger herausragender Hohenzollernherrscher. Der Aufbau einer Flotte als Basis deutscher Weltmachtstellung ließ Wilhelm II. als Vollender einer Tradition erscheinen, die vom Großen Kurfürsten (Stabilisierung des preußischen Staates) über Friedrich den Großen (Großmachtstellung Preußens) zu Wilhelm I. (Einigung Deutschlands) reichte. Der Einsatz des Kaisers für den Ausbau des deutschen Kanalnetzes, insbesondere des Mittellandkanals, wurde von ihm ebenfalls als Fortsetzung einer entsprechenden Politik vorangegangener Hohenzollernherrscher aufgefaßt.

Technisch-industrielle Modernisierung und Festhalten am halbabsolutistischen Anspruch auf Selbstherrschaft im Reich und in Preußen stellten so zumindest für Wilhelm II. keinen Widerspruch dar. Man kann darüber streiten, ob tatsächlich erstere nicht letzterer bereits den Boden entzogen hatte, als der Kaiser sein Amt antrat. Der Anspruch, wie dereinst Friedrich II. alle wichtigen Entwicklungen im Lande noch eigenhändig kontrollieren und initiieren zu können, war bereits 1888 angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung von Staat und Gesellschaft objektiv nicht mehr ausfüllbar. Der Kaiser verbarg dies vor sich selbst durch hektische Aktivitäten und Dilettieren in allen möglichen Feldern und beraubte sich vermutlich auch dadurch der Chance, zumindest auf einem eingeschränkten Felde eine kohärente Politik zu gestalten. König stellt klar heraus, daß es keine systematische kaiserliche Technologie- und Industriepolitik gab, sondern nur eine Reihe von Einzelinitiativen in bestimmten Bereichen wie der Marine- und der Funktechnik, während andere wichtige Bereiche völlig außen vor blieben.

Was aber waren die objektiven Wirkungen des kaiserlichen "Wirkens"? Hier kommt König zu einem durchaus differenzierten Bild. Es gab demnach tatsächlich einige Entwicklungen wie beispielsweise den Bau des Mittellandkanals, die Erhebung der Schiffsingenieure zu Offizieren oder die Gründung einer Technischen Hochschule in Danzig, zu denen es ohne das Eingreifen des Kaisers wohl nicht gekommen wäre. In anderen Bereichen beschleunigte er zumindest das Tempo von Innovationen, die sich ohne kaiserliche Initiativen erst zu einem späteren Zeitpunkt durchgesetzt hätten, so in einigen Feldern der Marinetechnik sowie bei der Gleichstellung der realistischen mit den humanistischen Schulen und der Technischen Hochschulen mit den klassischen Universitäten.

Für den Fortschritt Deutschlands bedeutsamer als die Wirkung der persönlichen Eingriffe des Kaisers waren aber die indirekten Folgen der öffentlichen Bekundungen der kaiserlichen Unterstützung von Industrie und Technik, wie König am Ende seines Buches einräumt. Wilhelms demonstratives Interesse an technischen Fragen und seine Begeisterung für entsprechende Innovationen wurden damals als für einen regierenden Monarchen absolut untypisch und "unstandesgemäß" wahrgenommen. Der technikbegeisterte Kaiser stieß bei den alten politischen Eliten dabei oft genug auf Skepsis und auch Spott, die aufsteigenden bürgerlichen Leistungsträger der technisch-industriellen Entwicklung Deutschlands hingegen sahen sich durch das kaiserliche Interesse bestätigt und "geadelt". Die Beschäftigung Wilhelms II. mit Wissenschaft, Technik und Industrie unterstützte so "die gesellschaftliche Emanzipation des Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums" und sie "unterstützte die Entwicklung des Reiches zum Industriestaat", indem sie die Tatsache ins Bewußtsein rückte, "daß der wirtschaftliche Aufstieg Deutschlands nur auf der Basis einer hochentwickelten Technik und Wirtschaft erfolgen könne". So kommt König zu dem abschließenden Urteil, daß bei aller politischen Inkompetenz "Wilhelms Engagement für Technik und Industrie einen Beitrag zur 'Modernisierung' Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert" leistete.

Dieses Urteil in einer gut lesbaren "Teilbiographie" recht überzeugend fundiert zu haben, ist das bleibende Verdienst des Verfassers. Daß der letzte deutsche Kaiser dergestalt ein wirksamer Faktor in der deutschen Geschichte war, hat König wohl auch bewogen, im neuen "Historikerstreit" über die politische Bedeutung Wilhelms Partei zu ergreifen. In diesem werden die Eckpunkte von Hans-Ulrich Wehler, dem Nestor der deutschen Strukturgeschichte, und dem britischen Historiker John C. Röhl markiert. Erklärte ersterer Wilhelm II. zum bloßen "Schattenkaiser", der trotz formal starker verfassungsrechtlicher Stellung tatsächlich ohnmächtig in den politischen und bürokratischen Strukturen des preußisch-deutschen Reiches gefangen war, zeichnet Röhl in den bislang erschienenen Bänden seiner umfangreichen Biographie den Kaiser als einen Herrscher, der sehr wohl einen erheblichen und unheilvollen Einfluß auf die Politik des Kaiserreichs besessen habe.

Weil Wilhelm II. nun technologiepolitisch keine völlig einflußlose Person war, glaubt König, daß sein Buch eher die Position Röhls stützt. Doch verkennt er, daß der neue Historikerstreit sich um die Rolle des Kaisers im Herrschaftssystem des Reiches und damit seine Verantwortung für das politische Geschick Deutschlands im 20. Jahrhundert dreht. König wäre besser beraten gewesen, Stellungnahmen im Streit um "Schattenkaiser" oder politisch unheilvolle Schlüsselfigur zu unterlassen und lieber anhand des Beispiels Wilhelms II. der Frage nach der Teilbarkeit von politischer und technisch-industrieller Moderne intensiver nachzugehen: Wieweit kann technisch-industrielle Modernisierung auch unter bestimmten archaisch anmutenden Herrschaftssystemen gelingen, ja, ist gar die zumindest zeitweise Aufrechterhaltung vormoderner Herrschaftsautorität vielleicht sogar günstiger für eine nachholende Modernisierung als eine im gleichen Takt voranschreitende politische Demokratisierung? Aber das war dann doch wohl ein zu heißes Eisen.  

Wolfgang König: Wilhelm II. und die Moderne. Der Kaiser und die technisch-industrielle Welt. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2007, gebunden, 330 Seiten, Abbildungen, 34,90 Euro

Bild: Willy Stöwer, Wilhelm II. auf der "Deutschland" beim Kaisermanöver 1912: Innovationen befördert


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