© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/07 13. Juli 2007

Wetterleuchten
Das konservative Minimum I: Gegenströmungen zum schrankenlosen Individualismus / Auftakt zu einer fünfteiligen JF-Serie
Karlheinz Weissmann

Bei der Stichwahl für das Amt des französischen Präsidenten wurde es unübersehbar: "Konservativ" ist wieder eine akzeptierte politische Kennzeichnung. Der Konservative Nicolas Sarkozy stand eben gegen die Sozialistin Ségolène Royal; hilfsweise war auch die Rede von einer Entscheidung zwischen dem "Rechten" und der "Linken", aber im allgemeinen wurde die fehlende Trennschärfe gescheut und der Hautgout, der zwar nicht mit der Zuschreibung "links", aber mit der Zuschreibung "rechts" verbunden ist.

Die neue Unbefangenheit bleibt nicht auf die Politik beschränkt. Es gibt selbst nach Auffassung linker Analytiker einen entsprechenden Großtrend in den westlichen Gesellschaften, der neben Parteiorientierungen auch Moral, Religiosität, Lebensentwurf, Erziehungsstil oder Kleidermode betrifft. Der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter, ein typischer Repräsentant der Achtundsechziger, äußerte etwa, "daß die große Zeit des libertären Individualismus, des schrankenlosen anything goes, der heillosen Flucht aus allen Bindungen für die nächsten zwei, drei Jahrzehnte vorbei ist, zumindest durch Korrektive und Gegenströmungen ergänzt wird. Und diese Korrektive laufen auch und gerade bei jungen Leuten ... auf feste Regeln, Verwurzelungen, Verbindlichkeiten, Kontinuitäten, glaubwürdige Rituale und verläßliche Gemeinschaftszugehörigkeiten hinaus".

Was an dieser Argumentation auffällt, ist das Fehlen von Invektiven wie "überwunden", "rückwärtsgewandt", "anachronistisch", "reaktionär" oder - schlimmer - "faschistoid". Es hat sich stillschweigend die Annahme von der prinzipiellen Berechtigung des Konservativen durchgesetzt, verbunden mit einer Definition, die dem Selbstverständnis des Konservatismus weitgehend entspricht.

Das bedeutet eine drastische Veränderung gegenüber jener Nutzung des Begriffs, die bis dato vorherrschte. Danach war "konservativ" ein Schimpfwort, Synonym für das, was man nicht sein wollte, vor allem eine Bezeichnung derjenigen, die - aus welchen Gründen immer - Macht besitzen und diese zu "konservieren" suchen. Noch in der Berichterstattung über den Zusammenbruch der Ostblockstaaten war es üblich, Kommunisten als "konservativ" zu bezeichnen, was nichts anderes bedeutete, als daß sie sich im Besitz ihrer Pfründen zu "erhalten" suchten und daß man sie nicht nur als Verlierer, sondern auch als böse entlarvt hatte.

Dieser Sprachgebrauch war ein linker, und seine Vorherrschaft erklärt sich daraus, daß die Meinungsmacher in ihrer überwältigenden Mehrheit der Linken zugerechnet werden müssen. Hier war schon der Abschied von jener Gesamtlinken schwergefallen, der man immer - stillschweigend oder klammheimlich - die Realsozialisten zugerechnet hatte, und nun sah man sich der peinlichen Notwendigkeit ausgesetzt, das eigene politische Selbstverständnis zu retten, trotz des katastrophalen Scheiterns eines linken Gesellschaftsexperiments, und das tat man, indem man es "konservativ" umetikettierte.

Die Folge war eine völlige Entleerung des Begriffs, der nun gleichermaßen auf Kommunisten und Antikommunisten, KGB-Funktionäre und Unternehmer, die Gegner der Perestroika und einen Dissidenten wie Solschenizyn angewendet wurde. Es handelte sich um einen Mißbrauch, aber es gab niemanden, der ihn hindern konnte, am allerwenigsten die Konservativen. Erst eine deutlich veränderte Lage und eine veränderte Wahrnehmung der Lage erlaubten, den Begriff in einen sinnvollen Zusammenhang zurückzuholen.

Das wichtigste Merkmal der veränderten Lage ist die Erwartungsenttäuschung, die nach dem Kollaps des Ostblocks und dem Sieg des Westens eintrat. Optimisten, die geglaubt hatten, daß sich Politik zukünftig auf die Handelskonkurrenz zwischen liberalen Demokratien beschränken werde, deren Bürger nach individuellem Wohlergehen streben und keine weitergehenden ideologischen Bedürfnisse kennen, sahen sich bitter enttäuscht. "Lehrmeister Krieg" (Karl Otto Hondrich) hielt die folgenschwersten Lektionen bereit. Der erste Golfkrieg und die gewaltsamen Auseinandersetzungen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion führten zu einer Revision des Paradigmas von der friedlichen Lösbarkeit aller Konflikte. Der Angriff vom 11. September 2001 ergänzte diese Feststellung nur um die Einsicht, daß es in der Gegenwart kein Sanktuarium gibt, sondern die Attacke bei hinreichender Entschlossenheit bis ins Zentrum getragen werden kann.

Parallel dazu wurde der Blick auf das Innere der Gesellschaft gelenkt. Dessen Wahrnehmung war seit der Nachkriegszeit bestimmt von der Annahme, daß es mittels social engineering möglich sei, das Gefüge intakt zu halten und bei wirtschaftlicher Prosperität jedes neu auftretende Problem zu bewältigen. Gegen die Berechtigung solcher Erwartung sprechen aber der allgemeine Disziplinverfall und die Fragmentierung der sozialen Einheit.

Der Disziplinverfall hatte seine Ursache in einer Welle der "Demokratisierung" und der Autoritätskritik. Es wurde nach "'68" die Geltung aller Verhaltensmuster in Frage gestellt, die bis dahin relativ unbestritten gewesen waren. Der Abbau der Selbstverständlichkeiten brauchte zwar eine gewisse Zeit, kam aber schließlich an sein Ziel: Von der Zunahme der Kriminalität bis zur Verslumung, vom Anwachsen des Drogenkonsums bis zum Vandalismus, vom Verfall der Leistungsstandards bis zum Fehlen der Tischsitten, von der Vulgarität der Prominenz bis zur Entstehung einer neuen Unterschicht, die ungeniert auf Kosten der Allgemeinheit lebt, wird ein Bild geboten, das nicht mehr zu beschönigen ist. Gleichzeitig erweist sich die Unmöglichkeit, derartigen Entwicklungen wirksam entgegenzutreten. Das hängt auch damit zusammen, daß die westlichen Gesellschaften durch Zuwanderung in heterogene Gebilde verwandelt wurden, die weder mit den klassischen Mitteln des staatlichen Durchgriffs zu beherrschen, noch mittels Rückbezug auf die Überlieferung zu integrieren sind.

Wenn die veränderte Lage eine veränderte Wahrnehmung zur Folge hatte, dann war das zuerst an der Verunsicherung der Linken abzulesen. Die Sozialdemokratie zog sich schon in den neunziger Jahren aufs Pragmatische zurück, mobilisierend wirkte nur noch ein diffuser "Antifaschismus", und die Intelligenz wurde larmoyant, wollte wenigstens anerkannt wissen, daß man "das Beste vergeblich gehofft" (Joseph von Westfalen) habe.

Dem Zurückweichen der Linken entsprach eine allmähliche Rechtsverschiebung in der politischen Selbsteinschätzung der Bürger. Im November 2003 kam ein Bericht des Instituts für Demoskopie zu der Feststellung "Der Linkstrend ist gestoppt". Seit den siebziger Jahren hatte sich eine wachsende Zahl der Bundesbürger als "links" von der Mitte stehend betrachtet: Lag dieser Anteil 1978 bei nur 20 Prozent, waren es 1990 immerhin 35 Prozent; demgegenüber sank der Anteil derjenigen, die sich für "rechts" hielten, von 46 Prozent auf 33 Prozent. Den Vorgang begleitete eine Abwertung des Begriffs "rechts", der eigentlich nur noch im Sinne von "rechtsradikal" oder "rechtsextrem" verstanden wurde. Obwohl diese Anfeindung ungebrochen weiterwirkte, zum Teil sogar verschärft wurde, stieg der Anteil derjenigen, die sich als rechtsstehend betrachten, seit 2000 wieder auf 35 Prozent, während der Anteil der Linksstehenden auf 27 Prozent sank.

Diese Veränderung hat auch zu einer anderen Beurteilung von Lebensweisen und Prinzipien geführt. Im August 2005 erschien die Illustrierte Stern mit dem Titel "Generation Zuversicht - Realistisch, optimistisch, konservativ". Es handelte sich um einen Bericht über Grundeinstellung und Zukunftserwartung der jungen Erwachsenen, der teilweise überraschendes zutage förderte: Wahlpräferenz zugunsten der CDU und Patriotismus, Anerkennung der Religion, Familienorientierung und Regelgehorsam.

Allerdings ist diese Art von Konservatismus unpolitisch und neigt zu einer naiven Akzeptanz der bestehenden Verhältnisse. Soweit er überhaupt Interesse an Weltanschaulichem hat, kommt ihm die "neue Bürgerlichkeit" entgegen. Darunter ist eine Tendenz zu verstehen, die sich im Feuilleton etablieren konnte, ein paar illustre Vertreter aufzuweisen hat, aber möglichst diffus bleibt. "Konservatismus" versteht man hier als eine Art Ausgleichsmoment, ein notwendiges Korrektiv für historische Entwicklungen, die allzu rasch allzu viele Veränderungen fordern, ein "Bedürfnis der Menschen" (Paul Nolte), das abgesättigt werden muß - nicht mehr und nicht weniger.

Die Renaissance des Konservativen ist aber besser damit zu erklären, daß die veränderte Lage den konservativen Typus zur Geltung kommen läßt. Über den schrieb Ricarda Huch in einem ihrer Essays: "Es scheint, daß der kräftige und gesunde, der harmonische Mensch im allgemeinen konservativ ist; er verwendet seine Kraft darauf, mit den nächstliegenden Aufgaben fertig zu werden, unter schwereren Umständen sich doppelt anstrengend, zu erschütternden Veränderungen erst dann bereit, wenn ein Druck unerträglich wird und den Kern des Lebens angreift, und auch dann mehr auf Wiederherstellung des Gewesenen erpicht als auf Neuerungen." Das bedeute auch, daß der Konservative weniger glänzend erscheine als der Neuerer, aber, so Ricarda Huch weiter, Neuerer "sind oft nicht gerade sympathische Menschen: sie lieben es, sich hervorzutun, aufzufallen, das Naheliegende, Erforderliche gelingt ihnen nicht, wenigstens nicht so, daß sie sich darin auszeichnen können, oder sie haben gar nichts zu tun, wissen sich nicht zu beschäftigen und tasten planlos nach diesem und jenem. Der innerste Grund ist wohl, daß sie ungleichmäßig begabt sind: unproduktive Menschen, finden sie in sich selbst nie Befriedigung und halten sich an das Äußere, dem sie mit überlegener Kritik, ungeduldig, aber ohne Tüchtigkeit gegenüberstehen."

Den Neuerer und den Konservativen trennen nicht nur verschiedene Lebensweisen, sondern auch verschiedene Denkstile. Der Begriff "Ideologie" wird hier vermieden, denn er legt ein Maß an Einheitlichkeit und Stringenz nahe, das nicht gemeint ist. Ein Denkstil basiert auf einem bestimmten Meinungssystem, das die Perspektive bestimmt. Eine solche Sicht auf die Dinge hat blinde Flecken, tote Winkel, aber sie hilft zur Erfassung der Welt, soweit sie für den Menschen verstehbar ist.

Ein dominanter Denkstil tendiert zur Ausschließlichkeit. Er ignoriert, was sich nicht einfügen will oder deutet es - fallweise mit großem Aufwand - um, bis die Widersprüche verschwinden; alternative Erklärungsmuster werden immer bekämpft. Die Dominanz des linken Denkstils in den vergangenen Jahrzehnten läßt sich an zahllosen Einzelheiten nachweisen. Von der faktischen Stärke linker Parteien in den europäischen Parlamenten über das Selbstbild der Eliten in Politik, Kirchen, Medien oder Sport bis zur allgemeinen Akzeptanz von Feminismus und Milieutheorie, der egalitären Sozialpolitik, dem Sprachstil, der Formlosigkeit in der Kleidung und dem Duz-Komment.

Noch wirksamer als die offensichtliche ist aber die verborgene Macht, alle dem eigenen Denkstil entgegenstehenden Fakten so umzuinterpretieren, daß sie in das gewünschte Schema passen. Als Beispiel sei hier die von den Linken forcierte Bildungsreform genannt, die zur Zerstörung des Schul- und Hochschulsystems führte, aber nicht angetastet werden darf, obwohl die Menge derjenigen immer weiter zunimmt, die keine sinnvolle Ausbildung erhalten hat oder schlicht analphabetisch ist; ähnliches gilt für den Multikulturalismus, der jahrelang als Gewinn gepriesen wurde und trotz der offensichtlich fehlgeschlagenen Eingliederung von Zuwanderern als Modellvorstellung aufrechterhalten wird, während man die Autochthonen einer massiven Indoktrination und Repressalien aussetzt, um die Nennung der negativen Begleiterscheinungen zu unterdrücken.

Den aktuellen Bekenntnissen zur Elitenförderung hier, zur Berechtigung des Nationalbewußtseins dort, kommt insofern Signalfunktion zu, sie verweisen auf die Krise des linken Denkstils, dessen Erklärungskonzepte sich immer massiver in Frage gestellt sehen. Ein Sachverhalt, der auch sonst erkennbar wird. Bei dem Wahlkampf in Frankreich etwa, von dem eingangs die Rede war, nominierte die Linke zwar eine Frau, aber eine, deren Habitus männlicher erschien als der ihrer männlichen Konkurrenten in der sozialistischen Partei. Der Tendenz entsprach auch die ganze Art der öffentlichen Präsentation. Ségolène Royal überließ ihrem Kontrahenten Sarkozy keineswegs den Vorrang in bezug auf die Themen "Identität", "Recht und Ordnung" oder "Disziplin", ihre Anhänger waren ebenso wie die ihres Gegners mit Trikoloren in Mengen aufgetreten, ohne rote Fahnen, und zum Ende der Kundgebungen sang man die Marseillaise, nicht die Internationale.

Das sind mehr als Details. Hier zeichnet sich ein qualitativer Umschlag ab. Die "Linke" unterwirft sich symbolischen Vorgaben der "Rechten", sie versucht ihre Politik durch Übernahmen vom Gegner zu drapieren - eine Taktik, die wir lange nur mit umgekehrten Vorzeichen kannten.

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Studienrat an einem Gymnasium. Die zweite Folge dieser JF-Serie lesen Sie in der nächsten JF-Ausgabe 30/07 am 20. Juli.

Bild: Carl Spitzweg, Verdächtiger Rauch (Öl auf Leinwand, um 1860): Die Annahme von der prinzipiellen Berechtigung des Konservativen hat sich durchgesetzt


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