© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/07 06. Juli 2007

"Abgetrieben und doch am Leben"
Tim lebt, doch werden weiter längst lebensfähige Kinder im Mutterleib getötet. Spätabtreibung ist ein Tabu
Moritz Schwarz

Gräfin von Westphalen, Tim, der Junge, der seine eigene Abtreibung überlebt hat, feiert in dieser Woche seinen zehnten Geburtstag. Mit einer zentralen Demonstration vor dem Kölner Dom hat das am Samstag die deutsche Lebensrechtsbewegung gefeiert. Es war Ihre Stiftung Ja zum Leben, die 1998 die Kampagne Tim-lebt.de ins Leben rief.

Westphalen: Als wir von dem damals nur "das Oldenburger Baby" genannten Kind durch die Presse erfuhren, haben wir seinen Namen in Erfahrung gebracht, uns zusammengesetzt und die nach ihm benannte Aktion Tim-lebt.de gegründet. Insbesondere die Aktion Lebensrecht für Alle (Alfa) und die Christdemokraten für das Leben (CDL) haben unserer Stiftung dabei tatkräftig geholfen. Wir waren sehr froh, Tims Pflegeeltern zu finden, denn Tim benötigte Hilfe. Eine Delphin-Therapie war die aussichtsreichste Möglichkeit, um seine Entwicklung zu fördern (siehe Seite 6). Unsere Stiftung Ja zum Leben hat dafür Spenden gesammelt. Die Hilfsbereitschaft der Menschen war beeindruckend. Nicht eine Therapie mußte wegen mangelnder Einnahmen abgesagt oder verschoben werden. Tims Pflegeeltern, die ihn nach der Gott sei Dank mißlungenen Abtreibung aufgenommen haben, kümmern sich liebevoll um das Kind. Ich bin sehr dankbar dafür, daß ich diese Eltern kennenlernen durfte. Sie gehören zu den stillen Helden in unserem Land.

Es ist kaum bekannt, daß immer wieder Kinder wie Tim ihre eigene Abtreibung überleben.

Westphalen: Jedes dritte Opfer einer Spätabtreibung kommt lebend zur Welt! Die meisten sterben aber kurze Zeit später an den Folgen des Eingriffs. Nach der 23. Schwangerschaftswoche sind die Kinder schon außerhalb des Mutterleibes lebensfähig. Es ist absurd, aber auf der einen Seite setzen wir für Frühchen alle Hebel in Bewegung, um sie zu retten, während wir auf der anderen Seite unerwünschte Kinder im selben Alter einfach töten. Durch den Fall Tim konnten wir das konkret ins Bewußtsein der Menschen bringen.

Tim leidet unter dem Down-Syndrom, deshalb sollte er abgetrieben werden. Lebt er nun tatsächlich das lebensunwerte Leben, das unterschwellig behinderten Menschen unterstellt wird?

Westphalen: Fragen Sie doch mal seine Pflegeeltern! Bei unserer Menschenkette am Samstag in Köln berichteten sie von der Freude, die Tim am Leben hat und die auch der Familie geschenkt wird. Und das, obwohl Tim zusätzliche Behinderungen durch das stundenlange Liegenlassen ohne Versorgung direkt nach der Abtreibung davongetragen hat. Das war und ist auch eine besondere Herausforderung für die Pflegefamilie. Natürlich ist Tim auf ständige Betreuung angewiesen. Aber "lebensunwert" ist sein Leben deshalb beileibe nicht.

Was hat Sie am Fall Tim besonders berührt?

Westphalen: Was mich an Tim so fasziniert, ist sein unbändiger Wille zu leben, den ich spüre, wenn wir uns sehen: ein Vorbild für eine Gesellschaft, die dem Niedergang soviel Platz einräumt! Seine unglaublichen Erfolge durch die Delphin-Therapie, seine Tierliebe, vor allem zu den Delphinen und zu seinem jungen Begleithund sind wirklich faszinierend. Was mich besonders berührt, ist die Liebe, die Tim in seiner Familie erfährt. Liebe ist die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg!

Trotz der Erfolge der Aktion Tim-lebt.de ist das Problem der Spätabtreibungen kaum ins öffentliche Bewußtsein gelangt.

Westphalen: Abtreibung allgemein ist ein Thema, das von uns weitgehend verdrängt wird. Immerhin aber wird man angesichts des bevorstehenden demographischen Kollaps dieses Schweigen nicht mehr lange durchhalten können. Nach offiziellen Angaben wurden bei uns im letzten Jahr auf diese Weise 120.000 ungeborene Kinder getötet. Jedes Jahr verschwindet also durch Abtreibung quasi eine Großstadt von der Größe Regensburgs oder Potsdams - die wohl ebenso hohe Dunkelziffer gar nicht eingerechnet! Die Spätabtreibungen machen das Unrecht besonders deutlich. Es werden Kinder abgetrieben, von denen viele bereits auch außerhalb des Mutterleibs lebensfähig sind. Tim ist da ein eindrucksvolles Beispiel. Immerhin haben hier die Medien aber reagiert: Ohne ihre Berichterstattung hätte man von Tim nichts erfahren. Es hat daraufhin sogar einige Fernsehberichte gegeben, die auf den Skandal der Spätabtreibungen aufmerksam gemacht haben. Das Problem scheinen mir weniger die Medien, als die Politik zu sein. Denn erst durch das verheerende Abtreibungsgesetz von 1995 sind Spätabtreibungen bis kurz vor der Geburt legal!

Und die Zahlen steigen, ohne daß Politik und Öffentlichkeit darauf reagieren.

Westphalen: 1994 hatten wir laut Statistik noch 26 Abtreibungen ab der 23. Schwangerschaftswoche in Deutschland. Durch das Gesetz von 1995 - das menschliches Leben tatsächlich von der "Zumutbarkeit" abhängig macht - ist die offizielle Zahl zwischenzeitlich auf über 200 gestiegen! Im letzten Jahr lag sie bei 183, aber Fachleute gehen gar von 800 Kindern aus, die nach der 20. Schwangerschaftswoche abgetrieben werden. Die damalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin hat zwar gefordert, dies müsse unterbunden werden - dagegen getan hat sie aber nichts. Als wir vor drei Jahren zusammen mit Fürstin Gloria von Thurn und Taxis im Justizministerium 74.000 Unterschriften überreichten, um auf das Unrecht aufmerksam zu machen, wurde uns gleich signalisiert, daß die Bundesregierung keine Veranlassung sieht, das Gesetz zu ändern.

Also droht doch die Spätabtreibungsregelung in der öffentlichen Wahrnehmung moralisch immer legitimer zu werden?

Westphalen: Es gibt einen fatalen Trend zum äußerlich makellosen Menschen, Stichwort: Designer-Kind. Vorgeburtliche Diagnostik entwickelt sich immer mehr zur Suche nach Auffälligkeiten, die dann in der Regel durch die Tötung des Kindes vermieden werden sollen. Nicht selten kommt es übrigens zu Fehldiagnosen - Statistiken gibt es darüber leider nicht. Aber fast jeder von uns kennt doch Beispiele, in denen sich Mütter größte Sorgen wegen einer diagnostizierten Behinderung machten, die dann gar nicht eintrat. - Das wissen wir aber nur von den Kindern, die zur Welt gekommen sind, die also überlebt haben.

Ist es übertrieben, von einer Art Euthanasie zu sprechen?

Westphalen: Spätabtreibung ist Früheuthanasie, gar keine Frage!

Spätabtreibungen sind offiziell nur gestattet, wenn Lebensgefahr oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der körperlichen oder seelischen Gesundheit der Mutter besteht. Wie gehen Ärzte mit dieser Regelung um? Hat sie sich bereits als "Gummiparagraph" erwiesen?

Westphalen: Die Bundesärztekammer fordert seit Jahren den Gesetzgeber zu Korrekturen auf. Denn die Ärzte haben jetzt das Risiko und das ethische Problem zu schultern. Der Arzt-Patienten-Vertrag lautet auf Tötung des Kindes. Wenn dann das Kind lebend zur Welt kommt, verstößt der Arzt gegen den Vertrag, wenn er dem Kind hilft, am Leben zu bleiben. Zugleich ist er aber von Gesetzes wegen dazu verpflichtet, dem Kind zu helfen. Egal, wie er sich verhält, mit einem Bein steht der Arzt im Gefängnis oder wird zum Ziel von Schadensersatzansprüchen. Da kann man doch nur sagen: Wohin sind wir in Deutschland gekommen? Das ist doch grotesk! Wie kann man von Ärzten so etwas verlangen? Da ist der Gesetzgeber in der Pflicht! Doch die Regierung weigert sich bislang, obwohl im Koalitionsvertrag die Überprüfung vereinbart wurde.

Welche Politik in puncto Spätabtreibung schlagen Sie vor?

Westphalen: Eine gesetzliche Regelung, die das Grundrecht auf Leben achtet. Dazu gehört auch die Beachtung des Diskriminierungsverbots für Behinderte, das zwar seit 1994 im Grundgesetz steht, aber für die ungeborenen Kinder 1995 gleich wieder abgeschafft wurde. Die Spätabtreibungen sind dabei der erschreckendste Teil des Problems. Bei jeder Abtreibung lebensfähiger Kinder wird für alle deutlich, wie kriminell die verharmlosende Rede von der "Entfernung des Schwangerschaftsgewebes" ist. Es geht nicht um die Beendigung eines Zustands, sondern um die Tötung eines Kindes, das sollten wir in der Diskussion nie vergessen! In den letzten dreißig Jahren haben sich Lebensfeindlichkeit und Gewalt unter dem Versprechen von Emanzipation und Selbstbestimmung in unsere Gesellschaft eingeschleust. Wir müssen deshalb eine neue Kultur des Lebens entwickeln. Ohne eine Neuentdeckung von Ehe und Familie und ohne Kinder können wir keine Zukunft haben. Wir müssen die Zehn Gebote wieder beherzigen. Eine Rechristianisierung ist unbedingt notwendig! Gesellschaften mit fester Religiosität werden uns sonst ablösen. 

Da ist von der Politik gegenwärtig wohl nichts zu erwarten. Was kann der Bürger also tun?

Westphalen: Die Aktion Tim-lebt.de wird von den Lebensrechtsorganisationen unterstützt, die im Bundesverband Lebensrecht (BVL) organisiert sind, dem Dachverband der deutschen Lebensschutzverbände. Es werden weiter Unterschriften gegen Spätabtreibung gesammelt. Wir rufen alle, die etwas tun wollen, auf, sich an ihre jeweiligen Wahlkreisabgeordneten zu wenden, damit die Politik auch merkt, daß da ein gesellschaftliches Problem besteht, das gelöst werden muß. Öffentliche Aktionen wie die Menschenkette um den Kölner Dom am letzten Wochenende sind ein weiteres positives Beispiel. Keinesfalls dürfen wir darauf warten, daß die Politik endlich reagiert. Wir selbst müssen unser Land durch unser Handeln verändern. Die Stiftung Ja zum Leben fördert deshalb mit ihrem Schwangerenfonds Schwangere und Familien, die sich in einer augenblicklichen Notlage befinden. Die Hilfe wird über Beratungsstellen vermittelt, die auf die Ausstellung von Abtreibungsscheinen verzichten. Jeder kann so zu einer kinder- und lebensfreundlichen Gesellschaft beitragen. Auch für Tims nächste Delphin-Therapie sammeln wir wieder Spenden, weil Tim und Kinder wie er nichts dafür können, daß das Recht auf Leben für sie nicht gelten sollte! 

 

Johanna Gräfin von Westphalen: zählt zu den bekanntesten Lebensschützerinnen Deutschlands. Sie gründete 1985 die CDU/CSU-Lebens-rechtsinitiative Christdemokraten für das Leben (CDL), deren Vorsitzende sie bis 2002 war, und 1988 die Stiftung Ja zum Leben, die sie heute leitet. 1998 rief sie mit Unterstützung der CDL und der Aktion Lebensrecht für alle (Alfa) die gemeinsame Kampagne gegen Spätabtreibung Tim-lebt.de ins Leben, die seitdem unermüdlich den Fall Tim in Medien und Öffentlichkeit lanciert. Johanna von Westphalen war 18 Jahre lang Mitglied im Landesvorstand der CDU von NRW. Sie ist eine Großnichte des "Löwen von Münster", Clemens Kardinal Graf von Galen. Geboren wurde sie im Jahr 1936 auf Schloß Assen im Münsterland.

Kontakt: Die Aktion Tim-lebt.de ( www.tim-lebt.de ) wird getragen von der Stiftung Ja zum Leben, Haus Laer, 59872 Meschede, Telefon: 02 91 / 22 61, im Internet: www.ja-zum-leben.de 

Tim-Spendenkonto: Dresdner Bank Meschede, KTN 771 220 001, BLZ 440 800 50, Stichwort: Delphin-Therapie

Das Geheimnis der "sinkenden" Abtreibungszahlen: Zwar fiel laut Statistischem Bundesamt die Zahl der gemeldeten jährlichen Abtreibungen zwischen  1996 und 2006 von 130.899 auf 119.710, da im gleichen Zeitraum aber die Zahl der Lebendgeborenen von 796.013 auf 673.000 zurückgingen, ist der Anteil der Abtreibungen gemessen an den Lebendgeburten von 16,4 Prozent auf 17,8 Prozent gestiegen. Die Dunkelziffer liegt etwa doppelt so hoch. Da es bei den Geburten keine vergleichbare Dunkelziffer gibt stirbt vermutlich jedes vierte Kind durch Abtreibung.

Foto: Demonstration der Lebensrechtsaktion Tim-lebt.de am Samstag in Köln: "Spätabtreibung ist Früheuthanasie! Der Fall Tim bringt das den Leuten ins Bewußtsein"

 

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