© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/07 29. Juni 2007

Im Sumpf der Großen Koalition
Pflegeversicherung: Kurzfristige Lösungen, um bis zum Wahljahr 2009 über die Runden zu kommen
Jens Jessen

Die angekündigte Reform der umlagefinanzierten Pflegeversicherung (PV) blieb im Sumpf der Koalition stecken. Aus dem im Januar 1995 im Sozialgesetzbuch XI - Soziale Pflegeversicherung - eingeführten Instrument der Entlastung Pflegebedürftiger wurde eine Einrichtung, deren Pflegesätze in den letzten zwölf Jahren 15 Prozent ihres ursprünglichen Wertes verloren haben, weil sie nie an die Inflation angepaßt wurden. Gleichzeitig hat die demographische Entwicklung zu weitaus größerer Inanspruchnahme der PV geführt, als 1995 geschätzt wurde. Seit 2000 ist sie defizitär. Über Wasser gehalten wurde sie bisher nur, weil sie von den hohen Rücklagen der Einrichtungszeit zehren konnte. Die Erhöhung des Beitrags von 1,7 Prozent auf 1,95 Prozent (für Kinderlose 2,20 Prozent) wird bis 2014 nicht ausreichen bei dem rasanten Wachstum der Altersgruppe der 65- bis 79jährigen und jener der Hochbetagten über 80 Jahre. Insbesondere die Hochbetagten werden dazu beitragen, daß die Zahl der Pflegefälle ein hohes Wachstum ausweist.

Demographische Entwicklung blieb fast unberücksichtigt

Trotz der demographischen Entwicklung schafft die Vereinbarung der Großen Koalition mehr Leistungen, mehr Personal und die Bedienung vieler bisher noch nicht geklärter Details. Was mehr häusliche Pflege durch "Pflegezeit" für pflegende Angehörige genau auslöst, ist nicht so klar, wie es scheint. Einzig zu sehen ist, daß der Staat den Unternehmern eine "Wohltat" aufzwingt, von der sie nichts haben. Sie sollen ihre Beschäftigten auf Antrag sechs Monate unbezahlt freistellen, damit diese ihre Angehörigen pflegen können. Daß die Freigestellten nur in den Genuß des Pflegegeldes der Stufen I bis III kommen, das weit unter den Pflegesätzen der ambulanten professionellen Pflege liegt, führt zu der Schlußfolgerung, daß der Staat Geld sparen will. Das tut er mit dem typischen Instrument des Staates. Er schafft Fakten auf Kosten Dritter. Das wird jedoch nicht ausreichen, die Finanzierung der Pflegeversicherung über die Beiträge der Versicherten sicherzustellen, weil die Basis der Beitragzahler bröckelt, die Inanspruchnahme aber steigt. Die folgende Generation wird bluten.

Was die besseren Leistungen für die rund 1,2 Millionen Demenzkranken in Euro und Cent bedeuten, ist ebenfalls unklar. Derzeit wird für sie ein jährlicher Zuschuß von 460 Euro gezahlt. Wie man damit die Versorgung der betreuungsintensiven Menschen gewährleisten kann, ist allen Beteiligten ein Rätsel. Ab 2008 soll der Zuschuß auf 2.400 Euro pro Jahr erhöht werden. Mit dieser Besserstellung betreibt die große Koalition Augenwischerei bei den Betroffenen. Denn damit läßt sich keine ausreichende Versorgung gewährleisten. Eine Erhöhung auf 5.520 Euro wäre realistischer gewesen. Die aber ist schon im Jahr 2008 nicht zu finanzieren.

Bert Rürup, der Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, ist der Ansicht, daß der Reformsprung zu kurz geraten ist, weil die Finanzreform ausgespart wurde. Deshalb würden die Belastungen für die kommenden Generationen wachsen. SPD-Chef Kurt Beck dagegen ließ sich trotz des kümmerlichen Ergebnisses in der Ärzte Zeitung zu der Äußerung hinreißen: "Das ist qualitativ wirklich eine sehr große Reform, die wir da hinbekommen haben." Volker Kauder, Fraktionschef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, wollte dem nicht widersprechen. Er formulierte jedoch zurückhaltender: "Wir haben gezeigt, daß wir was bewegen können."

Ein schönes Eigenlob, das Fragen aufwirft. Vor der Einigung standen die Profis der Parteien nahezu ohne Abweichung auf der Linie, der PV-Beitrag müsse um 0,5 bis 0,8 Prozent erhöht werden, "damit die Menschen im Alter nicht in die Sozialhilfe abrutschen", so der CDU-Sozialpolitiker Peter Weiß. Kauder und die stellvertretende SPD-Vorsitzende Elke Ferner kalkulierten mit 0,5 Prozent Beitragssatzerhöhung. Entweder haben sich die Profis verkalkuliert, oder die Großkoalitionäre haben Nebelkerzen geworfen, um bis zum Wahljahr 2009 unbeschadet über die Runden zu kommen.

Wirtschaftssachverständige warnen vor falschem Weg

Daß letzteres der Fall ist, läßt sich einer Bemerkung von Rürup entnehmen, der eine rasche Umstellung der PV vom Umlageverfahren (Beiträge vom Lohn/Gehalt) auf ein kapitalgedecktes System vorgeschlagen hat. "Ökonomisch wäre es das beste Modell. Aber ich sehe nicht, daß die Politik die Kraft dazu findet", so der Wirtschaftsweise mit SPD-Parteibuch.

Auch Eberhard Wille, Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklungen im Gesundheitswesen, konnte seine Enttäuschung über das vorgelegte Konzept nicht verbergen. Die Dynamisierung der vorgesehenen Erhöhung der ambulanten Leistungen ist seiner Ansicht nach zu gering ausgefallen, um eine nachhaltige Finanzierung zu gewährleisten. Deshalb trägt Wille auch die Vorstellungen von Rürup mit. Je später der Aufbau der kapitalgedeckten Rücklage erfolge, so seine Aussage, desto schwieriger werde es sein, diese politisch überhaupt noch durchzusetzen. Dabei eigne sich die PV bei relativ geringen finanziellen Lasten besser als die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) für eine kapitalgedeckte Komponente.

Der Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium, Klaus Theo Schröder, verteidigte hingegen die Vorschläge zur Finanzierung der Pflegeversicherung. Schließlich, so Schröder, habe die Bundesregierung schon Grundlagen dafür gelegt, daß die Pflegeversicherung entlastet wird. Dabei gehe es sowohl um die Verbesserung des Entlassungsmanagements aus dem Krankenhaus als auch um den Grundsatz "Rehabilitation vor Pflege". Die Krankenkassen müßten eine Art "Strafzoll" zahlen, wenn sie nicht innerhalb eines halben Jahres die Mittel für eine verordnete Rehabilitation bereitstellen. Schließlich könnten Pflegeleistungen in Verträge der "Integrierten Versorgung" aufgenommen werden. Damit solle die Pflege in die Wohnquartiere zurückgebracht werden. "Wir wollen eine Stärkung der ambulanten Pflege." Dabei tut er so, als ob die GKV-Kassen schon in der Lage sind, zusätzliche Leistungen ohne Erhöhung der Beitragssätze zu erbringen - aber auch dieser Sozialversicherungsbereich braucht neue Problemlösungen.


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