© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/07 29. Juni 2007

Der linke Traum von einer anderen Gesellschaft
Programmdiskussion: Wie die neuformierte Linkspartei Deutschland verändern will / Umverteilung und soziale Grundsicherung
Doris Neujahr

Die neue Partei "Die Linke" hat die deutsche Politik verändert. Das zeigt die Panik der SPD, die der Union neoliberale Neigungen vorwirft, und die Vehemenz, mit der die Union das zurückweist. Der Neoliberalismus ist der große Popanz, an dessen verbaler Bekämpfung die Partei wächst. Aber was hat sie programmatisch zu bieten? Im Neuen Deutschland (ND), ehedem das Zentralorgan der SED, findet seit zwei Jahren eine Programmdiskussion statt.

Die klügsten Diskutanten wie der Sozialphilosoph Michael Brie, Stellvertretender Vorsitzender der PDS-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung, und der junge Berliner PDS-Vorsitzende Klaus Lederer geben zu, mehr Fragen als Antworten zu haben. Brie bezweifelt, ob linke Politik sich überhaupt auf den "Hauptkonflikt" mit dem neoliberalen Kapitalismus kaprizieren dürfe. Ob es nicht "eine Pluralität solcher Konflikte" gebe? Der systemtheoretisch beschlagene Lederer konstatiert kühl, daß auch potentielle Linkswähler multiple Akteure sind: als Arbeitnehmer, Steuerzahler, Konsumenten, Sparer oder Leistungsempfänger mit entsprechend widerstreitenden Interessen. Es genüge nicht, darauf zu verweisen, "daß es in der Gesellschaft genug Reichtum gibt, wenngleich dies abstrakt zutrifft und Teil unserer Kritik ist".

Der Europaabgeordnete Andre Brie (Bruder von Michael Brie) denkt strategisch. Im Vorfeld der Bundestagswahl 2005 mokierte er sich über die "programmatische und intellektuelle Schwäche" von Union und FDP. Er bezweifelte, daß ihr - damals als sicher geltende - Wahlsieg über 2009 hinaus Bestand haben würde. Mit dem Liberalen Ralf Dahrendorf wähnt er sich in einer Zeit, in der die "sozialen Konflikte und ihre wissenschaftliche Erörterung einen fundamentalen oder konstitutionellen Charakter annehmen. (...) In solchen Zeiten stehen die Spielregeln von Herrschaft und Gesellschaft selbst zur Diskussion." Eine Koalition, an der die PDS teilnehme, dürfe sich nicht im forcierten Sozialdemokratismus erschöpfen. Es gehe um eine "soziale Demokratisierung und demokratische Sozialisierung der Gesellschaft", für welche die "systemimmanenten Spielräume" indes erschöpft seien. Das heißt: Brie träumt von einem Paradigmenwechsel, einer anderen Gesellschaft. Doch was heißt das?

"Der Wind beginnt sich zu drehen"

Alte Westlinke wie Dieter Dehm, Wolfgang Gehrcke und Paul Schäfer, die in der PDS untergeschlüpft sind, finden kräftige Worte: Linke Politik habe "vom Entlarven auf Eingreifen umzurüsten" mit dem Ziel eines "wirtschaftsdemokratischen Umstiegs", der "intellektuell-konsequent durchgeplant" sein müsse. Das sind Leerformeln, die lediglich emotional-assoziativ aufgefüllt werden. Eine "internationale 'Unidad Popular'" (Volksfront) müsse her. In China und Südostasien regierten kommunistische Parteien, und "die Vereidigung des neuen bolivianischen Präsidenten Evo Morales, mit erhobener Faust und im Bündnis mit Chávez und Castro, signalisiert: Der Wind beginnt sich zu drehen. Höchste Zeit, über den deutschen Tellerrand hinauszublicken." Perspektiven, die einen frösteln lassen.

2005 ventilierte die Partei als Wahlkampfschlager eine "neue soziale Idee", die konzeptionell unbestimmt blieb. Im Aufruf zur Gründung einer neuen Linkspartei wurde gefordert, "soziale Menschenrechte und individuelle Freiheitsrechte zusammenzubringen". Eine Verbindung aus Marxismus, Menschenrechtsideologie und bürgerlicher Freiheit also. Doch welche Chance hätte das dritte Element auf Dauer gegen die beiden ersten? Schon die "Menschenrechte" sind undefinierbar, nun gar soziale! Es gibt nur soziale Standards, die eine Gesellschaft festschreibt, sofern ihre Volkswirtschaft das hergibt - oder auch nicht. In diesem Fall geht das Land irgendwann pleite.

Peter Porsch, Fraktionsvorsitzender der PDS in Sachsen, will nicht für die "reine Utopie, wörtlich übersetzt 'Nicht-Ort'" zuständig sein. Die "neue soziale Idee" verortet er "in der ganztägig für alle Kinder offenen Kindertagesstätte, in der längeren gemeinsamen Schulzeit für alle, in der solidarischen Bürgerversicherung unter Einbeziehung aller Einkommen, in einem existenzsichernden Mindesteinkommen, in der Gleichberechtigung aller Lebensweisen, in der Anerkennung der kulturellen Vielfalt einer offenen Gesellschaft, in Schritten zu einer gerechten globalen Wirtschaftsordnung."

Angriff auf die deutsche Mittelschicht

Doch weder die Vereinigten Staaten noch China werden Schritte unternehmen, um der Linkspartei global entgegenzukommen. Wie will die Linkspartei eine Kapitalflucht verhindern? Weil das Großkapital grenzüberschreitend flexibel ist, bleibt zur Finanzierung der teuren Vorhaben nur der Angriff auf die deutschen Mittelschichten. Tatsächlich wird in den Papieren verschiedentlich die Erhöhung der Grund-, Grunderwerb- und Erbschaftsteuer verlangt, die keineswegs nur Multimillionäre betrifft.

Zwar ist im Aufruf vom Juli 2006 von der Schuldenrückführung die Rede, gleichzeitig aber auch von einer Steuerpolitik, "die es dem Staat ermöglicht, seinen Aufgaben nachzukommen". Gregor Gysi hat am 24. Januar 2007 an der Marburger Universität ganz klar erklärt, er wolle nicht nur den "Erhalt", sondern sogar noch den "Ausbau" des Sozialstaates, was nur heißen kann, es soll noch mehr Geld in die Sozialsysteme hineingepumpt werden. Das bedeutet weitere Steuererhöhungen. Gysi gab viele Floskeln von sich. Die Verteilung der Güter solle nach "Gerechtigkeitsgesichtspunkten" erfolgen, auch möchte er den "Primat der Politik über die Wirtschaft" herstellen und ihre "institutionelle als auch territoriale" Entgrenzung überwinden. Schweben ihm geschlossene wirtschaftliche Großräume vor, in denen ein nationaler, pardon: europäischer Sozialismus reüssiert? Eine Antwort wäre wenigstens mit Blick auf die avisierte Bürgerversicherung nötig. Damit sie kalkulierbar bleibt, muß klar gesagt werden, wer empfangsberechtigt ist (die Staatsbürger) und wer nicht, sonst wird sie zur Saugpumpe für Millionen Menschen aus aller Welt.

Zurück zum Gründungsaufruf: Was bedeutet die Forderung, daß die "Schlüsselbereiche der Wirtschaft und der Daseinsvorsorge (...) in öffentliche Eigentumsformen überführt werden und demokratischer Kontrolle unterliegen" müssen? Wer kontrolliert? Ein Ständiger Ausschuß der Bundestagsparteien? Die "lebendige Arbeit" soll belohnt werden, "nicht das tote Kapital". Was heißt das in Gesellschaften, denen die Arbeit ausgeht und die andererseits zur Ergänzung der beitragsgedeckten Altersvorsorge eine kapitalgedeckte empfehlen? Doch wohl die Drohung, private Ersparnisse zu sozialisieren. "Ein gesetzlicher Mindestlohn und eine repressionsfreie soziale Grundsicherung sollen allen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen, auch denen, die nicht lange genug in die Sicherungssysteme einzahlen konnten." Und wer nicht einzahlen wollte, weil er zu faul war? Im übrigen ist man "gegen jede elitäre Ausgrenzung" in der Schule, für ein "integratives Gesamtschulsystem" und die "Umstellung von Halbtags- auf Ganztagsschulen".

Nichts ist dagegen zu sagen, wenn begabte Arbeiter- oder Prekariatskinder besonders gefördert werden, damit sie gemäß ihren Fähigkeiten in die gesellschaftliche oder wirtschaftliche Elite aufsteigen können. Hier wird aber der Begriff der Elite in einen unauflöslichen Zusammenhang mit "Ausgrenzung" gebracht und damit als Ergebnis politischer Willkür hingestellt, so als gäbe es keine Begabungsunterschiede. Dahinter aufersteht das alte, linke Menschenbild, daß alle Menschen gleich sind und nur die fehlerhaften gesellschaftlichen Bedingungen Ungleichheit erzeugen. Am Ende stehen Gleichmacherei und allgemeines Mittelmaß. Von Selbstverantwortung als notwendigem Gegenstück zur beanspruchten Solidarität, auf die Michael Brie noch verwiesen hatte, ist nirgendwo die Rede.

Die Chance, in die oberste Etage aufzusteigen

Die Interessen der Parteiführung stellen sich so dar: Sie sieht, daß die politischen Eliten die Interessen weiter Teile der Bevölkerung im Zuge der Globalisierung nicht mehr abdecken können. Das ist ihre Chance, selber in die obersten Etagen aufzusteigen und in Ämter und in Pfründen zu gelangen. Die Linke will an den Strukturen des Parteienstaates nichts ändern, sondern diese selber in Beschlag nehmen. Laut Gründungsaufruf erfolgt die Finanzierung neben Spenden und Beiträgen durch die "gesetzlich geregelten staatlichen Zuschüsse". Um sich der Wähler zu versichern, verspricht sie als Mittel gegen Globalisierung eine Umverteilung nach der schlichten Brecht-Formel, die auch auf dem Vereinigungsparteitag von PDS und WASG zitiert wurde. "Armer Mann und reicher Mann / standen da und sah'n sich an / und der Arme sagte bleich: / 'Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich'."

Das erfreut diejenigen, die aus Gewohnheit zum Prekariat gehören. Aber im Wahlkampf 2005 hat sich gezeigt, daß es auch die abstiegsbedrohten Mittelschichten einnimmt, die - statt gegen ihre Enteignung zu stimmen - lieber auf die Enteignung der nächsthöheren Schichten und auf Umverteilung hoffen. Unbewußt streben die Wähler einen Staat an, der Sicherheit durch Umverteilung verheißt, auch wenn dadurch immer mehr Staatsabhängige und verwaltete Menschen entstehen. Das ist die Chance der Linkspartei, die als erste Partei in Deutschland entschlossen auf das globalisierte Massenzeitalter des 21. Jahrhunderts reagiert, wie falsch auch immer. Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU) möchte sie vom Verfassungsschutz beobachten lassen. Er hat nichts begriffen.


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