© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/07 22. Juni 2007

Warschau steht nicht ganz allein da
EU-Gipfel: Im Verfassungsstreit hat Präsident Kaczynski auch die Opposition und Mehrheit der Polen hinter sich
Andrzej Madela

Die polnischen Rechtsausleger kontern diesmal links: Das Brudergespann Lech und Jarosław Kaczyński hat es innerhalb weniger Wochen verstanden, im Streit um die künftige EU-Stimmengewichtung auch die oppositionelle wirtschaftsliberale Bürgerplattform (PO) hinter die eigenen Forderungen zu bringen. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts OBOP sind knapp die Hälfte der Befragten gar für ein polnisches Gipfel-Veto, sollten die eigenen nationalen Interessen Ende dieser Woche in Brüssel nicht durchsetzbar sein, lediglich ein gutes Viertel hingegen lehnt diese rigorose Haltung ablehnenswert.

Unmittelbar vor dem EU-Gipfel in Brüssel und am Vorabend des Besuchs von Staatspräsident Lech Kaczyński in Deutschland am vergangenen Sonnabend beeilte sich der polnische Parlamentsvizepräsident Bronisław Komorowski (PO), in einem Interview mit der linksliberalen Zeitung Gazeta Wyborcza seine Unterstützung für die von ihm sonst vehement bekämpfte Regierung aus Kaczyńskis sozialkonservativer PiS, der linkspopulistischen Samoobrona und der nationalkatholischen LPR zu signalisieren. Er sehe in der Forderung nach einer neuen Stimmengewichtung im EU-Rat "nichts Unangemessenes".

Daß die innerpolnische Zustimmung zu Kaczyńskis Nein zu einem EU-Vertrag so eindeutig ausfällt, hat diesmal objektive Gründe. Polen, durch den 2003 geschlossenen Vertrag von Nizza bevorteilt (27 Stimmen bei einer Bevölkerung von 38,1 Millionen gegenüber Deutschland mit 82,3 Millionen und 29 Stimmen), fürchtet um seinen Einfluß, sollte der neue EU-Vertragsentwurf einmal Realität werden. Dieser sieht vor, künftig verbindliche Entscheidungen mittels einer doppelten Mehrheit herbeizuführen: 55 Prozent der Mitgliedsstaaten (nach dem Prinzip, daß jeder Staat eine Stimme habe) müssen gleichzeitig 65 Prozent der EU-Bevölkerung hinter sich haben, damit eine Entscheidung zum Tragen kommt.

Das Prinzip der doppelten Mehrheit, auf den ersten Blick demokratisch und transparent, verschafft jedoch nach Ansicht der regierenden Kaczyński-Brüder den ganz großen sowie den ganz kleinen Ländern ein unzulässiges Übergewicht. Die einfache Mehrheit der wirtschaftlich eher willenlosen kleinen Mitgliedsländer lasse sich nämlich im Sog der deutsch-französischen Düsentriebe schnell zusammenflicken, die 65 Prozent der EU-Bevölkerung seien noch einfacher als Verschiebemasse zu haben, schlössen sich die Großen - Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien - zu einem Zweckbündnis zusammen.

In dieser Situation würden, so die Warschauer Argumentation, gerade die Länder mittlerer Größe - folglich etwa Polen, Spanien, Ungarn, Tschechien, Portugal, Belgien, Schweden und Dänemark - zu ewigen Verlierern des Vertrags mutieren: Zu klein, zwei Drittel der EU-Bevölkerung hinter sich zu wissen, nicht zahlreich genug, über die Hälfte des EU-Rats zu stellen, seien sie dann nur Spielbälle der Giganten.

Die Quadratwurzel aus der Bevölkerungszahl

Freilich würde vor allem Premier Jarosław Kaczyński den Vertrag von Nizza am liebsten unangetastet wissen. Da dessen Tage jedoch gezählt sind - mittlerweile haben sich zu viele EU-Mitglieder für seine Grablegung ausgesprochen -, bringt er einen neuen Vorschlag zur Stimmengewichtung im EU-Rat in die Debatte: die Quadratwurzel aus der Bevölkerungszahl.

Demnach läge die neue Stimmenzahl für Deutschland bei 9 (Quadratwurzel aus 81 Millionen Einwohnern), die für Polen und Spanien bei 6 (Wurzel aus 36 bzw. 40 Millionen). Für Großbritannien, Frankreich und Italien, die jeweils knapp 60 Millionen Einwohner zählen, kämen etwa 7 bis 8 Stimmen in Frage. Dies wäre zwar für Polen selbst ein spürbarer Verlust gegenüber dem Stand von Nizza, ließe sich aber insgesamt verschmerzen, berücksichtigt man die Tatsache, daß auch die Großen (insbesondere Deutschland) Federn lassen müßten. Vor allem aber wäre man die Fesseln der doppelten Mehrheit mit einem Schlag los, insbesondere das erdrückende Übergewicht der vier Großen, gegen deren Bevölkerungszahl schier nicht anzukommen sei.

Im Verständnis von Staats- wie auch Ministerpräsident Kaczyński ist die Frage der künftigen EU-Verfassung nur eine der vielen, die man für das aus ihrer Sicht träge, aufgedunsene und zunehmend manövrierunfähige Gebilde dringend in Angriff nehmen müsse, um diesem neuen Schwung zu verleihen. Daß die polnische Führung auch noch nationale Kompetenzen nach Brüssel abgeben muß, verträgt sich schlecht mit dem Selbstverständnis einer Mannschaft, die außenpolitisch von der EU ohnehin nichts und es statt dessen lieber mit den USA hält, deren Entschlossenheit und Durchsetzungskraft das Gegenstück zum Brüsseler Trauerspiel sind. Die Brüder Kaczyński sind keine glühenden Europa-Naivlinge, ihre Begeisterung für eine Auflösung der Nationalstaatlichkeit in ein übergeordnetes Gebilde überhaupt nicht vorhanden. Folgerichtig ist Deutschland - mit seiner europafreundlichen Bundeskanzlerin - zwar kein besonderer Gegner, wohl aber ein besonders gefährlicher Antreiber eines ungewollten Prozesses, gegen den es sich zu stemmen gilt. Das Scheitern eines EU-Gipfels wiegt da nicht viel, der dramatische Appell von Bundeskanzlerin Angela Merkel, den Prozeß der europäischen Einheit doch nicht zum Stehen zu bringen, wird in Warschau wohl unverhallt verklingen.

Aber sogar dann, wenn Warschau einlenken sollte, bleibt selbst ein aus dem EU-Verfassungsentwurf abgeleiteter "Änderungsvertrag" (wie ihn der französische Präsident Nicolas Sarkozy vorschlägt) fraglich. Denn neben dem Widerstand der tschechischen Regierung (der als nicht unüberwindbar gilt) bleibt die EU-Skepsis etwa in Großbritannien bestehen. Mit dem scheidenden Premierminister Tony Blair oder seinem Nachfolger Gordon Brown ist eine Einigung möglich. Doch sollte nach den nächsten Unterhauswahlen Oppositionsführer David Cameron in die Downing Street 10 einziehen und der Tory-Chef ein Referendum ansetzen, dann könnte selbst ein EU-"Änderungsvertrag" scheitern. Dem Vereinigten Königreich dann mit EU-Ausschluß zu drohen, dürfte allerdings - im Gegensatz zu "unbotmäßigen" kleineren Ländern - nicht möglich sein.

Foto: Angela Merkel streitet mit Lech Kaczynski: Nationale Kompetenzen nicht nach Brüssel abgeben


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