© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/07 15. Juni 2007

Die deutsche Wunde
"Kempowskis Lebensläufe" fordern zum Blick in die Untiefen der Geschichte heraus
Thorsten Hinz

Was Walter Kempowski in der Akademie der Künste in Berlin zur Zeit erlebt, ist nicht einfach nur eine Ehrung. Es kommt einer Huldigung gleich. Der Bundespräsident persönlich eröffnete die Ausstellung "Kempowskis Lebensläufe", die sich über mehrere weitläufige Räume erstreckt und Schätze aus seinen legendären Archiven zeigt, die er der Akademie übereignet hat. Neben dem literarischen Archiv handelt es sich um die 1980 gegründeten Archive für unveröffentlichte Autobiographien und für Alltagsfotografien. Ihre Bestände nehmen insgesamt 500 laufende Regalmeter ein.

Der inzwischen 78jährige schwerkranke Autor konnte zur Eröffnung nicht kommen, doch in einer Grußadresse sprach er vom schönsten Tag seines Lebens, der manche Wunde heilt, aber nicht alle. Kempowskis über lange Jahre isolierte Stellung ist auch in der Ausstellung mit Händen zu greifen. Man sieht ihn - von den in seinem Haus in Nartum bei Bremen abgehaltenen Dichtertreffen abgesehen - so gut wie nie im Kreis von Schriftstellerkollegen. (Es ist kein Zufall, daß ausgerechnet Uwe Johnson eine Ausnahme bildet.) Woher jetzt die Begeisterung und Verehrung für Walter Kempowski?

Man erlebt hier seine Poetik als ein drei- oder, wenn man die verlorene und wiedergefundene Zeit hinzunimmt, als vierdimensionales Ereignis. Man begreift buchstäblich, warum er das "Echolot" verfassen mußte und warum es heute als Höhepunkt seines Schaffens und als überragendes literarisches Ereignis gilt. Am Anfang stand die Gefängniszelle, die im ersten Raum nachgebaut ist. Die Jahre zwischen seinem 18. und 26. Geburtstag waren "gemordete Zeit", wie ein anderer politischer Häftling, der Schriftstellerkollege Erich Loest, das aus eigener Erfahrung nannte. Der Rostocker Reederssohn Kempowski hatte Buch geführt über die Schiffsladungen, die die Russen aus Deutschland abtransportierten, und an die Amerikaner gemeldet. Sein älterer Bruder, der davon wußte, wurde gleichfalls verhaftet, seine Mutter (der Vater war 1945 in Ostpreußen gefallen), die keinerlei Ahnung davon hatte, ebenfalls. Margarethe Kempowski mußte fünfeinhalb Jahre im Zuchthaus zubringen. Die Schuldfrage, die heute mit soviel moralischem Behagen verhandelt wird, für Kempowski stellt sie sich ganz konkret - bis heute. Der Familienbesitz wurde beschlagnahmt, zerstreut, versteigert.

Kempowskis Sammelwut entsprach dem Ausmaß der Verluste. Das Kontinuum des Lebens war gleich mehrfach aufgesprengt. Um sich seiner selbst zu versichern, sammelte er alle nur erreichbaren Artefakte der Familiengeschichte, die, vergleichbar Prousts Teegebäck, den Strom der Erinnerung in Gang setzen konnten. Davon zeugen so unterschiedliche Dinge wie Schallplattenkoffer, Firmenschilder, Geschirr, vor allem aber Fotos, schriftlich fixierte Familienerinnerungen, Wohnungsskizzen, Rostocker Stadtansichten - seine Heimatstadt blieb ihm jahrzehntelang versperrt -, Modelle im Puppenstubenformat usw.

Was als persönliche Leidenschaft begann, wurde allmählich und ab 1980 offiziell zu einem Erinnerungs- und Seelenarchiv Deutschlands ausgebaut. Auf seine Zeitungsannoncen hin wurden ihm Zigtausende Tagebücher, Briefe, Fotografien, Aufzeichnungen zugeschickt. Kempowski traf - und trifft - das Bedürfnis vieler Menschen, die ihre Lebenserfahrungen weder in der Wissenschaft, in der Kunst noch in der staatlichen Museumspolitik aufgehoben sehen. Kempowski wurde zu ihrem alternativen Archivar.

Seine Beweggründe, seine Bedeutung und die jahrzehntelange Reizwirkung, die er auf den Kulturbetrieb ausübte, sind damit noch nicht hinreichend erfaßt. In einem Interview 1972 sagte er: "Als ich wieder frei war und hier in der Bundesrepublik nicht als politischer Häftling anerkannt wurde - man sagte mir, das hast du selbst verschuldet, du wolltest 'das Vaterland retten', sieh zu, wie du da wieder rauskommst -, in dieser Situation habe ich mich dann wieder in die Erinnerung geflüchtet (...)." Eine Haftentschädigung wurde 1960 vom Hamburger Oberverwaltungsgericht abgelehnt. Wie man seinen veröffentlichten Tagebüchern aus den achtziger und neunziger Jahren entnehmen kann, ist die verweigerte Genugtuung durch die bundesdeutsche Gesellschaft eine Wunde geblieben, die ihn schmerzt und die ihn anderen verdächtig macht.

Sie war und ist aber folgerichtig, denn nach dem Gesetz der Weltkriegssieger durften sie die Umstände und den Umfang ihrer Beute selber festlegen und war der Besiegte, der sich wehrte, ein Spion - bestenfalls. Um ihm eine Entschädigung zuzubilligen, hätte die deutsche Justiz aus der völkerrechtlich-juristischen Knebelung durch die Alliierten heraustreten müssen. Auch eine moralische Begründung in dem Sinne, daß der junge Kempowski aus dem Impuls nationaler Selbstbehauptung handelte - früher nannte man das: nationaler Freiheitskampf -, wäre ein politischer Angriff auf die Hoheit der neuen "moralischen Vormächte" (Arnold Gehlen) gewesen. (Ähnlich stellt sich bis heute das Problem der entschädigungslos gebliebenen deutschen Zivildeportierten dar, die nicht weniger "Sklavenarbeit" geleistet haben als die ausländischen Zivildeportierten in Deutschland.)

Hier liegt auch der tiefere Grund für die Isolation Kempowskis durch das kulturelle und intellektuelle Milieu: Sein Schicksal bezeugte einen grundlegenden Makel der Bundesrepublik, in der sich die meisten - und vor allem ihre affirmativen Kritiker im Geiste - so behaglich eingerichtet hatten. Kempowskis Wunden sind die des Landes, von denen die offizielle Bundesrepublik nichts wissen will.

Man kann nur bewundern, daß er an ihnen nicht zerbrochen ist, sondern daß der Schmerz zum Ausgangspunkt einer wunderbaren Produktivität wurde. Als Dichter der Gemütlichkeit wollte man ihn abtun. Daran ist nur soviel richtig, daß Kempowskis Romanstrukturen häufig konventionell sind und die Zeiterfahrung sich eher in Mikrostrukturen niederschlägt, etwa in jener unvergeßlichen Szene aus der "Deutschen Chronik", in der ein Bombenangriff den verzweifelten Willen, das bürgerliche Leben aufrechtzuerhalten, ad absurdum führt: "Fortwährend kamen sogenannte Hiobsbotschaften. Warkentins seien abgebrannt. 'Retten Sie meine Meißner!' habe die Frau Amtsgerichtsrat gerufen. 'Ist es dies?' habe ein Mann gefragt und den Korb aus dem Fenster geworfen."

Im "Echolot" hat Kempowski das Problem der literarischen Form spektakulär gelöst. Es war ihm klar, daß das disparate Erinnerungsmaterial, das über ihn heranbrandete, sich nicht nachträglich zu einem Kontinuum des Lebens ordnen ließ. Also fügte er es collageartig nebeneinander. Die Collage entsteht in zwei Arbeitsgängen: Der erste ist das Zerschneiden bzw. Zerreißen, der zweite das erneute Zusammenfügen der Elemente. Sie wurden von Kempowski derart angeordnet, daß der Leser assoziative Verbindungen herstellen kann. So entsteht ein schöpferisches Netzwerk der Erinnerung und zugleich die Chance auf Heilung der Wunde. Die Risse zwischen den Textblöcken aber bleiben bestehen und fordern zum Blick in die schwindelerregenden Untiefen der Geschichte heraus.

Die Verehrung, die Kempowski von unten stets erfuhr, ist oben angekommen. Das weckt Hoffnung wie nur weniges.

 

Die Ausstellung "Kempowskis Lebensläufe" ist noch bis zum 15. Juli in der Berliner Akademie der Künste, Pariser Platz 4, täglich außer montags von 11 bis 20 Uhr zu sehen. Tel.: 030 / 200 57-0. Der empfehlenswerte Katalog mit 168 Abbildungen kostet 19,90 Euro.

Fotos: Lineolsoldaten (um 1940) aus der Kempowski-Ausstellung: Die Risse zwischen den Textblöcken aber bleiben bestehen; Karton mit Negativrollen (l.), Objekt mit Figuren in Zellen, Vor­arbeit zum "Echolot": Deutschlands Erinnerungs- und Seelenarchiv; Walter Kempowski (2005): Der Besiegte, der sich wehrte


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