© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/07 15. Juni 2007

"Wenn's nicht reicht, dann reicht's nicht"
Ermyas M.: Zweite Stimmenanalyse entlastet Hauptangeklagten / Landgericht Potsdam schließt Beweisaufnahme ab / Nebenklage spricht sich für Freispuch aus
Christian Rudolf

Im republikweit bekannt gewordenen "Ermyas-M.-Prozeß" vor dem Potsdamer Landgericht deutet immer mehr auf einen Freispruch der beiden Angeklagten hin. Ein von der Staatsanwaltschaft angestrengtes zweites Stimmengutachten ergab in der vergangenen Woche weitere Klarheit in dem unübersichtlichem Fall, wenn auch nicht im Sinne der Anklageschrift. Das Urteil wird in den kommenden Tagen erwartet.

Wegen gefährlicher Körperverletzung hat sich Björn L. vor dem Potsdamer Landgericht zu verantworten, der Mit­angeklagte Thomas M. wegen unterlassener Hilfeleistung, beides in Tateinheit mit Beleidigung. Kurz nach einem heftigen Faustschlag an Ostern 2006, der Ermyas M. schwerste Kopfverletzungen zufügte, war L. eigenen Angaben zufolge mit unerhörter Brutalität von einer SEK-Einheit festgenommen worden, weil drei Bekannte seine hohe Stimme auf einem Mailbox-Mitschnitt vom Tatort wiedererkannt haben wollten. Er und sein Mitangeklagter haben stets jede Beteiligung von sich gewiesen und ihre Unschuld beteuert.

Gutachten auf Antrag der Staatsanwaltschaft

Ein erstes Stimmenvergleichsgutachten war im Prozeß bereits Anfang Mai von einer Phonetikerin des Landeskriminalamtes (LKA) vorgelegt worden. Festgestellt wurde indes nur eine "wahrscheinliche" Identität der Stimmen des Schlägers mit der des Hauptangeklagten - sehr zum Verdruß der Staatsanwaltschaft. Ein zweites Stimmgutachten, das am nunmehr 18. Verhandlungstag doch noch eine Wendung bringen sollte, verfehlte seinen Zweck jedoch vollends. Im Beweisbegehren der Staatsanwalt vom 14. Mai hatte es geheißen: "Der Sachverständige wird anhand eines anderen methodologischen Ansatzes und aufgrund besserer wissenschaftlicher Hilfsmittel zu der Feststellung gelangen, daß die zu untersuchenden Stimmen identisch sind." Dem war allerdings mitnichten so, im Gegenteil: Die vorigen Freitag erstattete Expertise von Sameh Rahman von der Universität Hannover entlastete Björn L. ein weiteres Mal.

Im Vorfeld war die Rede von einem "akustischen Fingerabdruck", den der ausgebildete Festkörperphysiker erstellen könnte. Als Material für den Stimmenvergleich dienten ihm ein polizeilicher Telefonüberwachungsmitschnitt aus dem Jahr 2003, in den Björn L. als Unbeteiligter geraten war, sowie ein dessen Stimme enthaltendes Privatvideo, das bei seinen Eltern sichergestellt wurde. Zwischen diesen Aufnahmen und dem Mailbox-Mitschnitt konnte er eine Identität nur zu 47 beziehungsweise 49 Prozent feststellen: "Alles, was unter 50 Prozent liegt, spricht für eine Nicht-Identität der Stimmen." Zu Erstaunen im Gerichtssaal führte seine Behauptung, auf dem Mitschnitt vom Tatort seien insgesamt lediglich die Stimmen zweier Personen zu hören. Bisher war das Gericht von mindestens drei Sprechern ausgegangen.

Mit der Methode des "akustischen Fingerabdrucks" war es dann nicht weit her: Um zweifelsfrei erkennen zu können, ob Sprecher identisch sind oder nicht, bedarf es auf den jeweiligen Aufzeichnungen einer Mindestlänge von Gesprochenem und der gleichen Sätze. Beide Voraussetzungen liegen beim Untersuchungsmaterial nicht vor, und die Angeklagten können nicht zu einer erneuten Stimmprobe gezwungen werden. Aufgrund welcher Parameter Rahman zu den Prozent-Angaben gelangte, konnte er auf Nachfrage nicht schlüssig darlegen, wie überhaupt seine Ausführungen fahrig wirkten. Er räumte denn auch ein: "Die Analysezeit war sehr kurz, ich habe das alles im letzten Moment gemacht."

Damit wurde die Beweisaufnahme vom vorsitzenden Richter Michael Thies geschlossen. Die Anwälte des Hauptangeklagten zeigten sich nach Verhandlungsende zufrieden: "Rahman war nicht in der Lage, eine Identität festzustellen", "Das Gutachten des LKA war überzeugender", war an Kommentaren zu hören. Und selbst Nebenklageanwalt Thomas Zippel sprach sich für einen Freispruch aus: Der Anstand würde es gebieten - "wenn's nicht reicht, dann reicht's nicht".


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