© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/07 15. Juni 2007

Horst Miering
Wut im Bauch
von Christian Vollradt

Seit die Archive der DDR offenstehen, lassen sich zwei Thesen zum 17. Juni 1953 belegen: Erstens war es nicht nur ein Arbeiter-, es war ein Volksaufstand. Zweitens spielten sich die Szenen einer Revolution nicht nur im Ostteil Berlins oder den Großstädten, sondern auch in der Provinz und den Kleinstädten Mitteldeutschlands ab.

Dazu gehörte auch das sächsische Städtchen Taucha nordöstlich von Leipzig, in dem sich der damals 32jährige Werkzeugmacher Horst Miering an den Protesten beteiligte. Eher zufällig kam er dazu; denn als Angestellter eines der letzten noch in Privatbesitz befindlichen Betriebe war Miering von den staatlichen Normerhöhungen und Lohnsenkungen - Anlaß, nicht Ursache des Aufstands - eigentlich nicht betroffen. Aber als am 17. Juni die Streikenden aus verschiedenen "volkseigenen Betrieben" vor das Parteihaus der SED zogen, schloß sich Miering ihnen an. Nicht gerade mit der Gewißheit, etwas bewirken zu können, sondern einfach weil es jetzt möglich schien, die lange angestaute Wut wegen der schlechten Wirtschaftslage und unfähigen Bonzen herauszulassen. Und weil Miering eine Kamera besaß, fotografierte er: die Demonstranten, die freie Wahlen fordern, die verunsicherte Staatsmacht, die genau dies verhindern will, und schließlich die Beseitigung der Insignien der "Partei der Arbeiterklasse".

Wozu deren Herrschaft führen kann, erlebte Miering schon zuvor am eigenen Leib; sein Lebenslauf gleicht in Kurzform vielen anderen seiner Generation: Jugend im Nationalsozialismus, Soldat bei den Fallschirmjägern, Kriegseinsatz, sowjetische Gefangenschaft. Das Leid der Lager lernt er zur Genüge kennen, ob in Rumänien, Ungarn oder Kasachstan; Rückkehr 1950 schwer von Tuberkulose gezeichnet; ein Jahr danach heiratet Horst Miering seine Jugendliebe Dora, bald darauf bekommen sie eine Tochter. Beide begleiten den Mann und Vater auch am 17. Juni, was nicht ohne Risiko ist. Zwar bleibt in Taucha alles relativ friedlich, doch im restlichen Bezirk Leipzig sterben an diesem Tag sieben Aufständische, sollen bis zu 120 Demonstranten verletzt worden sein. Ganz zu schweigen von den später drohenden Repressalien; gewarnt, daß die Stasi "den mit der Kamera" sucht, versteckt Miering Film und Apparat. Obwohl er von vielen gesehen wurde, verpfeift ihn niemand. Das verschont ihn vor einer Haftstrafe, tatsächlich in Freiheit ist die Familie erst mit der Flucht in den Westen ein Jahr vor Mauerbau.

Die "großen" Geschichten über den 17. Juni 1953 erwähnen sie beide nicht, weder Miering noch das kleine Taucha. Und doch haben beide dazu beigetragen, daß die Erinnerung an diesen deutschen Schicksalstag lebendig bleiben kann. Der heute Hochbetagte mit seinen wertvollen Fotografien und seinem Engagement bei der Vereinigung 17. Juni 1953, dem Veteranenverband der "17er"; und das unscheinbare Industriestädtchen durch die Tatsache, daß nach der Wende lange Zeit in ganz Mitteldeutschland nur hier eine Straße den damaligen Kämpfern für Freiheit und Einheit gewidmet war.


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