© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/07 01. Juni 2007

Weitgesteckte Toleranzgrenze
Baustein einer Biographie: Der Historiker Friedrich Meinecke im Kreis seiner Schüler
Tobias Siebert

Historiker müssen alt werden. An diese, seine eigene Maxime hat sich Urvater Ranke (1795 - 1886) brav gehalten. Ebenso der bedeutendste seiner Berliner Amtsnachfolger, Friedrich Meinecke. Der Altmärker wurde am 30. Oktober 1862 geboren, drei Wochen nach der Ernennung eines gewissen Herrn von Bismarck zum preußischen Ministerpräsidenten, und Meinecke starb im Februar 1954, als Konrad Adenauer als "Kanzler der Alliierten" den westlichen Teil des zertrümmerten Reiches regieren durfte. Damit umschließt diese Biographie, urteilt man nach der Wertskala der Mediengesellschaft, den unterhaltsamsten, den spannendsten Abschnitt deutscher Geschichte.

Als Forscher und Lehrer, Wissenschaftsorganisator, Gelehrtenpolitiker und Publizist, im hohen Alter noch als Gründungsrektor der Freien Universität Berlin an der Seite Ernst Reuters in der blockierten "Frontstadt" aktiv, zog Meinecke sich in dieser Epoche selten in den akademischen Elfenbeinturm zurück. Nur während der zwölf Jahres des Dritten Reiches war der liberale "Vernunftrepublikaner" als Emeritus gezwungen, sich zu den Stillen im Lande zu gesellen, was ihn ab 1943 freilich auch nicht vor den Drangsalen des Bombenterrors und der "befreienden" Okkupation bewahrte.

Ein so reiches Leben, mit einer überaus üppigen, vom Krieg verschonten Hinterlassenschaft, darin Berge von Manuskripten, Briefen, Dokumenten, stellt sich potentiellen Biographen Meineckes als herkulische Herausforderung da. Bisher hat sich daher nur Stefan Meineke an eine "dichte Beschreibung" gewagt, doch die endet 1914, kurz vor der Berufung Meineckes von Freiburg nach Berlin, in die Nähe der "Macht".

Wenn Gerhard A. Ritter nun eine kompakte Sammlung von Briefen und Aufzeichnungen aus dem Kreise der nach 1933 emigrierten Schüler Meineckes präsentiert, so ist dies ein wichtiger Baustein zu einer noch ausstehenden biographischen Bewältigung der zweiten Lebenshälfte des Historikers. Denn der Schwerpunkt liegt hier in der Zeit der Weimarer Republik, dem Anfang des Dritten Reiches, als Meinecke die Herausgeberschaft der Historischen Zeitschrift (HZ) entwunden wurde, und der Nachkriegsära, als seine Schüler mit Care-Paketen das Leben ihres Meisters retteten.

Ritter berücksichtigt Hans Rothfels als einen der ältesten Schüler, noch aus den Freiburger Jahren, ferner Dietrich Gerhard, Gerhard Masur, Hajo Holborn, Felix Gilbert, Hans Baron, Helene Wieruszowski, Hans Rosenberg, Eckart Kehr und Hanns Günther Reissner sowie - weil Meinecke formal ihr Doktorvater war und für ihre Habilitation sorgte - Hedwig Hintze, die eigentlich die Schülerin ihres Mannes, des Verfassungshistorikers Otto Hintze war, und den Engels-Biographen, Juden und Sozialisten Gustav Mayer, dessen Berliner Dozentenkarriere Meinecke nach 1918 "einfädelte".

In den Lebenswegen der ab 1933 als Juden oder "Halbjuden" ausgegrenzten Schüler, die Ritter in einer umfangreichen Einleitung zu seiner Edition vorstellt, spiegelt sich die Liberalität und Toleranz ihres Lehrers. Der zog Konservative wie den Kriegsfreiwilligen von 1914, Dietrich Gerhard, den Freikorps-Kämpfer und "Kapp-Putschisten" Gerhard Masur, den "Jungkonservativen" Rothfels ebenso an wie die Linksliberalen Hajo Holborn und Eckart Kehr.

Weltanschaulich entsprechend konträr schaut die Liste der von Meinecke inspirierten Promotionen und Habilitationen aus. Masur wurde mit einer Arbeit über den konservativen Staatsdenker Friedrich Julius Stahl habilitiert, Rosenberg arbeitete über den Altliberalen Rudolf Haym, Gilbert über den "kleindeutschen" Gelehrtenpolitiker und Historiographen Preußens, Johann Gustav Droysen. Gerhard wandte sich nach einer Niebuhr-Promotion der Geschichte der "großen Mächte" im 19. Jahrhundert zu, ein Feld, das Rothfels beackerte, während der "Linksaußen" Kehr über "Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894-1901" schrieb, um dabei das "Klassenbündnis" zwischen Junkern und Großindustriellen aufzudecken.

Als Kehr sich im Jubiläumsjahr 1931 an der Demontage des Reichsfreiherrn vom Stein versuchte, war freilich auch Meineckes weitgesteckte Toleranzgrenze überschritten. Das von Ritter dazu veröffentlichte Gutachten des mit ihm nicht verwandten Freiburgers Historikers Gerhard Ritter (1888-1967), der nicht erst als Konterpart Fritz Fischers sein begnadetes polemisches Talent bewies, zählt zu den Glanzstücken dieser Edition. Es sagt auch viel über Hans-Ulrich Wehler aus, den "Wiederentdecker" des früh verstorbenen und von ihm nach 1968 zum Vorläufer der Bielefelder "Historischen Sozialwissenschaft" stilisierten Kehr, wenn Ritter das "advokatorische Hervorzerren einzelner Quellenstellen", die "phantastische Leichtigkeit des Combinierens" rügt und das gesamte Elaborat als vom "Haß" diktierte "Schmähung" des Reformers Stein ablehnt.

In einem soeben erschienenen HZ-Aufsatz (Band 284/2007) hat Gerhard A. Ritter nachgeholt, was seine Einleitung etwas vermissen läßt: die wissenschaftshistorische Quintessenz dieser Dokumentation zu liefern. Klar wird dabei, daß es zwar "Schüler", aber keine "Schule" Meineckes gab. Dessen "Ideengeschichte" fand nur bedingt bei Gilbert und Baron eine Fortsetzung, die in den USA die "History of Ideas" förderten. "Völlig eigene Wege", die der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, sei vor allem Hans Rosenberg gegangen, der nach Ritters Einschätzung für die "Revision des deutschen Geschichtsbildes nach 1945" viel mehr geleistet habe als der methodisch antiquierte Fritz Fischer und die moderne Sozial- und Gesellschaftsgeschichte in der Bundesrepublik stärker angestoßen habe als der von der "Volksgeschichte" kommende Werner Conze.

Bei höchst unterschiedlicher Intensität der individuellen "Amerikanisierung" hätten sich zudem fast alle Meinecke-Schüler als "Brückenbauer" zwischen den USA und Deutschland bewährt, und vor allem Holborn habe die US-Geschichtsschreibung über Deutschland "drüben" geradezu etabliert. Mit Ausnahme von Gilbert habe sich allerdings niemand für die in den USA seit etwa 1990 so in Mode gekommene deutsch-jüdische Geschichte interessiert.

Unangenehm an dieser Edition fallen neben den grausig schlechten Reproduktionen der Porträtsfotos nur eine Reihe von Druckfehlern und wenige Lässigkeiten bei biographischen Daten auf. So stirbt Fritz Hartung bei Ritter entschieden zu früh (1927), Rothfels etwas zu spät (1979). Den guten Gesamteindruck des Werkes, an dem der Meister der Ideengeschichte sicher seine Freude gehabt hätte, kann das nicht trüben. 

Gerhard A. Ritter (Hrsg.): Friedrich Meinecke. Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler. Briefe und Aufzeichnungen 1910-1977. Oldenbourg Verlag, München 2006, gebunden, 514 Seiten, Abbildungen, 59,80 Euro.

Foto: Friedrich Meinecke (1942): Meister der Ideengeschichte


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