© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/07 25. Mai 2007

Deutschland, wo sind deine Grenzen?
Kleindeutsch oder großdeutsch war eine zentrale Frage nach dem Umfang Deutschlands für die nationale Einheitsbewegung
Stefan Scheil

Deutschland, aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden. Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf." Als Goethe und Schiller diesen Zustand in den "Xenien" unter dem Stichwort "Das Deutsche Reich" beschrieben, gaben sie den Deutschen als resignierte Schlußempfehlung umgehend noch den Auftrag mit, von jedweden nationalen Ambitionen Abstand zu nehmen. Die Deutschen sollten sich "freier zu Menschen bilden", nicht weniger, aber auch nicht mehr. So weit mit dieser Maxime eine nationale Selbstaufgabe zugunsten von Individualismus und Kleinstaaterei gemeint war, läßt sich sagen: Sie ist gründlich beachtet worden. Das galt nicht zuletzt für Deutschlands Dichter und Denker, die ihren Teil zur politischen Formlosigkeit, zur Trennung von Geist und Politik und schließlich zur begrifflichen Spaltung in Klein- und Großdeutschland beitrugen.

Politische Agonie seit dem Westfälischen Frieden 1648

Als die "Xenien" 1797 herauskamen, lag das Deutsche Reich seit Jahrhunderten in politischer Agonie, zerschlagen durch inneren Streit und die Strategie europäischer Nachbarstaaten. Ein handlungsfähiges politisches Zentrum gab es spätestens seit dem Westfälischen Frieden anderthalb Jahrhunderte vorher nicht mehr, als Ergebnis von dreißig Jahren Krieg. Um gar jemanden zu finden, der mit dem Namen der Nation sein eigenes Schicksal untrennbar verbunden und damit landesweit Furore gemacht hatte, mußte man eigentlich bis zu Ulrich von Hutten und der Reformationszeit zurückgehen.

Die Invasionstruppen der französischen Republik machten dieser Stille nach 1789 ein Ende. Sie stellten radikal die Frage nach der nationalen Selbstbehauptung Deutschlands, und sie bekamen eine radikale Antwort. Die napoleonische Herrschaft ließ eine Nationalbewegung entstehen, die sich ganz Deutschland widmete. Sie fand Gegner nicht nur in Frankreich, sondern auch in der weiterhin bestehenden amorphen und föderalen Landschaft Deutschlands. Als sich aber 1832 in Hambach die demokratische Nationalbewegung zusammenfand, um Forderungen zu stellen und für ein anderes, demokratisches Deutschland zu demonstrieren, da war der Gegenstand ihrer Gedankenwelt ganz selbstverständlich das Gebiet des früheren Reiches und jetzigen Deutschen Bundes. Wer Verfassungsrecht und Demokratie in Deutschland wollte, der dachte nicht an eine machtpolitische Spaltung, sondern an innenpolitische Reformen für das Ganze.

Damit stellte er jedoch die Macht der Dynastien Habsburg und Hohenzollern in Frage, die beide nicht an eine Beschränkung der eigenen Ordnungsansprüche dachten. Zugleich wurden auf diesem Feld erneut die europäischen Realitäten sichtbar. Beide deutsche Großstaaten agierten als europäische Großmächte im Zeichen einer Restauration, die nicht nur von ihnen ausging und die sowohl gegen die französische Revolution wie gegen die deutsche Nationalbewegung gerichtet war.

Von Großdeutschland zu sprechen, kam unter diesen Vorzeichen schließlich erst in Mode, als der Gegenbegriff "Kleindeutschland" ebenfalls bereits den allgemeinen Sprachgebrauch erreicht hatte. Preußen wurde 1849 als der einzige Rettungsanker einer wirklichen Einigung wenigstens eines Teils von Deutschland erkennbar. Letztlich stand "Großdeutschland" deshalb für eine Beschränkung des Selbstverständlichen. Großdeutschland gab und gibt es eigentlich nicht, es gab stets nur Deutschland - und Kleindeutschland.

An den europäischen Verhältnissen sollte dann die letzte Möglichkeit zugrunde gehen, eine demokratische Einigung Deutschlands zu erreichen. Als der Erste Weltkrieg die deutsche Schicksalsgemeinschaft sichtbar werden ließ und der Sturz der Dynastien Habsburg und Hohenzollern die innenpolitischen Hindernisse für eine Einigung beseitigte, stand dem demokratischen Deutschland nur noch eins im Weg: der Wille der Siegermächte. Sie verboten 1918/19 jene Einigung unter demokratisch-republikanischen Vorzeichen, die in Volksabstimmungen und Parlamentsbeschlüssen bereits angelaufen war. Das demokratische Deutschland blieb ein unerreichtes Ideal.

Etsch und Memel sind aus nationaler Sphäre gerückt

Was hätte sein können, wenn die Sieger von 1918 den Unterlegenen durch Respekt vor seiner nationalen Selbstbestimmung ausgesöhnt hätten, darüber läßt sich nur spekulieren. Das innerpolitische Zentrum eines vereinigten und saturierten (Groß-)Deutschland herzustellen, wäre 1919 weiterhin eine schwere Aufgabe gewesen. Damit sie hätte gelingen können, hätte die französische Republik wohl damit aufhören müssen, Spaltungstendenzen zu fördern oder mit der Rheingrenze zu liebäugeln. Auch das Königreich England hätte darauf verzichten müssen, in seinen Regierungskreisen jene radikalen Kräfte wie Winston Churchill zu dulden, die im zweiten dreißigjährigen Krieg Deutschlands Spaltung durchsetzten.

Es war eine Art melancholischer Ausklang, als nach 1990 die erste Strophe des Deutschlandliedes mit ihrer Beschreibung geographischer Grenzen aus der offiziellen Nationalhymne gestrichen wurde. "Wo Deutschland liegt", danach könnte Schiller heute mit größerer Berechtigung fragen.

Foto: Der Deutsche Bund (rote Linie) nach 1815: Dynastien der Habsburg und Hohenzollern in Frage gestellt


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