© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/07 11. Mai 2007

Der von allem Verlassene
Julia Warths Biographie über den prominenten General im Nationalkomitee Freies Deutschland, Walther von Seydlitz-Kurzbach
Herbert Ammon

In der Nachkriegsgeschichte markierte das Jahr 1955 eine Zäsur: Durch den Beitritt der Bundesrepublik zur Nato und der DDR zum Warschauer Pakt wurde die Teilung Deutschlands verfestigt. Ungeachtet der "neuen Lage" luden die Sowjets Adenauer zu einem Besuch nach Moskau ein, um durch Aufnahme diplomatischer Beziehungen die Anerkennung ihrer frisch kreierten Zwei-Staaten-Theorie zu erlangen.

Für Adenauer ging es um den Nachweis politischer Handlungsfähigkeit gen Osten, insbesondere um die Freilassung der auf 180.000 bis 200.000 bezifferten Kriegsgefangenen aus sowjetischen Lagern. Der Besuch fand vom 8. bis 14. September statt. Im Ergebnis ließen die Sowjets 9.626 Kriegsgefangene und 20.000 Zivilinternierte frei. Was inmitten der Emotionen um die Rückkehr der "letzten" Gefangenen weithin unbeachtet blieb, war die Tatsache, daß es sich mehrheitlich um Männer handelte, die von Tribunalen des NKWD zu langen Strafen (generell 25 Jahre) verurteilt worden waren. Einige entlassene KZ-Schergen landeten später tatsächlich vor bundesdeutschen Gerichten. Die meisten Urteile beruhten auf substanzlosen Pauschalanklagen und wurden in den neunziger Jahren von russischer Seite überprüft und annulliert.

Unter den Gefangenen, die am 7. Oktober 1955 im Auffanglager Friedland eintrafen, befand sich der General Walther von Seydlitz-Kurzbach. Der Träger des traditionsreichen Namens, der im Gefolge des Desasters von Stalingrad im September 1943 an die Spitze des Bundes Deutscher Offiziere (BDO) getreten war und als stellvertretender Präsident des von deutschen Exilkommunisten dominierten Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) fungierte, galt den einstigen Kameraden als "Verräter". In dem für 25 entlassene Generäle reservierten Zugabteil hatte man ihn "geschnitten". Bei der Ankunft in Friedland erregte er Aufsehen, als er sein Handeln rechtfertigte und ankündigte, sich politisch zu betätigen, Verbindung mit dem im Herbst 1953 in die DDR entlassenen Feldmarschall Friedrich Paulus aufzunehmen und über den Weg deutsch-sowjetischer Verständigung für die Einheit Deutschlands zu wirken. Als Sprachrohr westdeutscher Empörung titelte die Bild-Zeitung: "Von 24 Generalen saß einer abseits. General von Seydlitz muß Farbe bekennen." Seydlitz trat danach politisch nicht mehr in Erscheinung. In den 1960er Jahren bis zu seinem Tode 1976 erfuhr er - maßgeblich dank der Arbeiten Bodo Scheurigs zum NKFD - im Westen verhaltene Anerkennung, während in der DDR seine Rolle als antifaschistischer Patriot kaum noch Erwähnung fand.

"Verräter oder Widerstandskämpfer?" - die Frage im Titel des Buches von Julia Warth suggeriert einen Gegensatz, der längst keiner mehr ist. Jeder, der sich bewußt durch Wort und Tat dem NS-Regime widersetzte, kann den Begriff "Widerstand" für sich in Anspruch nehmen, ohne daß es angestrengter wissenschaftlicher Deliberation bedarf. Als sich Seydlitz an die Spitze des BDO stellte und zum Sturz Hitlers aufrief, nahm er hohe Risiken in Kauf: Im April 1944 verurteilte ihn das Reichskriegsgericht zum Tode, seine Familie kam in "Sippenhaftung". Er selbst sah seine Versuche, die sowjetische Seite für ein zweites Tauroggen zu gewinnen, im Einklang mit den Zielen der Verschwörer des 20. Juli. Diese Selbstwahrnehmung steht keineswegs in Widerspruch zu Stauffenbergs Diktum, er halte nichts "von Proklamationen hinter Stacheldraht". Auf seinen Reisen nach Stockholm versuchte Adam von Trott zu Solz, Fäden über die dortige sowjetische Botschafterin Alexandra Kollontai nach Moskau zu knüpfen. Während sich Militärs wie Paulus, Otto Korfes und Arno von Lenski nach Kriegsende und Auflösung des NKFD für die sowjetischen Ziele in der SBZ/DDR einspannen ließen, zeigte sich Seydlitz widerspenstig. Die Quittung war 1950 die Anklage und Verurteilung wegen Kriegsverbrechen. Es handelte sich um Requirierungen und den Zwangseinsatz von Zivilisten zur Schneeräumung im Winter 1941. Diese Beweislage war aus der Sicht der Autorin "verhältnismäßig dünn". Die Aufhebung des Urteils anno 1996 sei, so die telefonische Auskunft des Wehrmachtsausstellungs-Machers Hannes Heer, auf dessen Antrag erfolgt.

Damit rücken die heiklen Passagen des Buches in den Vordergrund. Die Autorin zitiert Quellen, die Seydlitz als widerspruchslosen Akteur des "völkerrechtswidrigen Vernichtungskriegs" im Osten erscheinen lassen. Vor dem Angriff auf die Sowjetunion hatte Hitler der Generalität die Mißachtung des Kriegsvölkerrechts (Kommissarbefehl, Einsatzgruppen) angekündigt. Divisionsbefehle über das Erschießen und Erhängen von Partisanen lassen keinen Zweifel über die Art der Kriegführung zu. Das Problem liegt in Seydlitz' persönlicher Schuldverhaftung. Daß Seydlitz den "Kommissarbefehl" ausführen ließ, ist aus dem Passus, "durch Abschießen von Kommissaren und Offizieren" würden sich die russischen Soldaten ergeben, nicht einfach abzuleiten.

Andererseits leitete er im November 1941 den Reichenau-Befehl weiter und versah ihn mit einem Zusatz, der den Begriff "Partisan" auf Zivilisten ausweitete, "die ohne Ausweis auf den Landstrassen angetroffen werden". Daß sich auch Seydlitz "vom Typus eines ehrenhaften Offiziers entfernt hatte", scheint somit kaum abweisbar. Nicht belegen kann die Autorin, "daß er den Feind im Osten als minderwertig betrachtete". Was Seydlitz' Verhalten im Kessel von Stalingrad betrifft, so offenbaren sich Widersprüche im Charakter. Zum selben Zeitpunkt, da er entgegen Hitlers "Einigelungs"-Befehl Paulus in einer Denkschrift zum Ausbruch drängt, flicht er in den Brief an seine Frau eine Devotionsformel ("wie es der Führer will") ein.

Sieht man von manch unkritischen Bezügen auf Sekundärliteratur - etwa Christian Gerlachs auf tendenziös spekulativen Umgang mit dem historischen Material gestützte Herabwürdigung der Widerstandsgruppe um Henning von Tresckow - ab, so handelt es sich um eine durch Quellenanalyse fundierte Arbeit. Inwieweit Seydlitz nicht allein aus patriotischen Motiven, sondern aus Erkenntnis des Verbrechens zum Widerstand gelangte, wird nicht recht ersichtlich. Unerklärt bleiben Widersprüche bei den Sowjets: Im Sommer 1943 gewann der NKWD-General Nikolaj Melnikow Seydlitz mit der Zusicherung eines Deutschlands in den Grenzen von 1937. Der eigentlich maßgebliche Propaganda-Sonderbeauftragte Dimitrij Manuilskij operierte noch bis in den Herbst 1944 mit einem großdeutschen Konzept einschließlich Österreichs.

Warths Dissertation, die unter der Ägide Wolfram Wettes entstand, wurde 2005 mit dem Gerhard-Ritter-Preis ausgezeichnet. Sofern Geschichtsschreibung Ansprüche an deutsche Prosa erfüllen sollte, sind milde Zweifel angebracht. Vokabeln wie "schlußendlich" und "realisieren", wo "erkennen" gemeint ist, sind modisch, aber absurd. Psychologismen können zur Satire geraten: "Aufgrund seiner manisch gesteigerten Rückzugs­angst war das Halten des Kessels für den 'Führer' die angenehmste Lösung." Oder "Seydlitz dagegen ließ sich auf ein spannungsreiches Konfliktfeld ein". Angst und Konflikte als "einen Teil des Lebens und Lebendigkeit auszuhalten" (Thea Bauriedl), "bedeutet (...) die systemverändernde Funktion von Mut zu erfahren. (...) Blickt man auf Seydlitz' Sozialisation zurück, so war Befehlsverweigerung für ihn keine Handlungsstrategie, die er allein mit militärstrafrechtlichen Sanktionen assoziierte." Seydlitz, der sich aus der Perspektive des Paulus-Stabschefs Arthur Schmidt des soldatischen Ungehorsams schuldig gemacht habe, "rekurrierte auf eine Verweigerungsform, die für ihn aufgrund der Leitbilder Yorcks, seiner Vorfahren und seines Vaters kein Tabu darstellte."

Der Stalingrad-General Seydlitz erscheint im Rückblick mehr als Spiegelbild der deutschen Nachkriegsgeschichte denn als "Vorbild soldatischen Patriotismus". Heute, da es über völkerrechtliche Legitimation, Sinn und Ausführung kriegerischer Friedensmissionen zu reflektieren gälte, scheint die Ahnenreihe Seydlitz so obsolet wie der preußische Ehrbegriff als "Wert" in der bundesrepublikanischen Gesellschaft.

Julia Warth: Verräter oder Widerstandskämpfer? Wehrmachtsgeneral Walther von Seydlitz-Kurzbach. R. Oldenbourg Verlag München 2006, gebunden, 360 Seiten, Abbildungen, 49,80 Euro

Fotos: Ingeborg von Seydlitz schirmt ihren Gatten vor den Fotogafen ab, Friedland 1955: Der "Verräter" wurde zum Ziel westdeutscher Empörung, von seinen Kameraden wurde er geschnitten; "Freies Deutschland im Bild", Januar 1944, General Seydlitz mit Nationalkomitee-Präsident Erich Weinert (Mitte) und BDO-Vizepräsident Oberst Steidle: Yorck und Tauroggen


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