© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/07 11. Mai 2007

Spielwiese der Ideologen
Bildung: Trotz finanzieller Not bleibt in der Hauptstadt jede Menge Platz für reformistische Versuche wie das "Jahresübergreifende Lernen" in der Grundschule
Matthias Bäkermann

Alles Zureden half nichts. Von den sechzig Eltern der Abc-Schützen einer Grundschule im bürgerlichen Südosten Berlins zeigten sich bis auf eine engagierte Mutter die meisten weitestgehend renitent. Auch den besten Argumenten über die anstehende "Chance zur Veränderung" verschlossen sich fast alle und stimmten mit 59 zu eins gegen den geplanten Modellversuch "Grundschule mit jahrgangsübergreifendem Lernen". Vielleicht lag das aber auch daran, daß die zur Präsentation bestellten Lehrkräfte der jeweiligen Klassen ihre eigene Skepsis vor dem ab dem Schuljahr 2007/2008 anstehenden Projekt nur schwer verbergen konnten oder - im Jargon der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) gesprochen - sich "noch nicht auf den Weg gemacht haben", diese "spannende pädagogische Innovation" zu begreifen.

Dabei gibt sich die GEW in der Hauptstadt seit Mitte der neunziger Jahre große Mühe, das System JÜL (Jahrgangsübergreifendes Lernen) zu propagieren und "an ihre Tradition anzuknüpfen, Motor der pädagogischen Entwicklung zu sein". Vor zehn Jahren wurde dann der Modellversuch, den klassischen Klassenverband mit erster, zweiter und dritter Klasse zugunsten einer gemischten, "heterogenen" dreijährigen Phase des altersübergreifenden Unterrichts aufzulösen, an zwei Berliner Grundschulen "als Chance zur Veränderung" genutzt - in beiden Fällen erfolgreich, wie die GEW betont.

Im Schuljahr 1999/2000 dehnte sich diese Praxis bereits auf neun, 2005/2006 auf 26 Grundschulen aus - wohlwollend von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport unterstützt, zuletzt unter dem SPD-Politiker Jürgen Zöllner. Stolz verweist die GEW darauf, daß man mit der für die laufende Legislaturperiode flächendeckend für Berlin beschlossenen "Schulanfangsphase", in der zumindest die beiden ersten beiden Schuljahre im JÜL-Sinne zusammengefaßt werden, "einen ersten Schritt" gehe. Sabine Dübbers, JÜL-Beauftragte der GEW, zeigt sich trotzdem skeptisch. "Leider bekommen wir eine Menge Kritik an der Reform. Das liegt aber daran, daß die Ausstattung dieses sehr anspruchsvollen Systems nicht befriedigend ist", klagt sie gegenüber der JF.

Darüber hinaus scheint das GEW-Konzept auf wenig Begeisterung in der Lehrerschaft zu stoßen, was Dübbers auch interpretiert als "Lustlosigkeit, sich auf Neues einzulassen". In der Tat bemängeln viele Lehrer, daß sich das Konzept aufgrund der ohnehin sehr angespannten Personaldecke kaum realisieren lasse.

"Der Überblick über die Großgruppe wird erleichtert."

Außerdem spreche die schulische Infrastruktur - sprich die bisher vorgegebenen Klassenraumgrößen - völlig gegen das JÜL-Konzept, was selbst Sabine Lübbers zugesteht: "Bei vollgepfropften Klassen funktioniert das Prinzip natürlich schlecht." Darüber hinaus seien Lehrer mit langer Erfahrung im "klassischen Stil" (Klassenverbund mit Frontalunterricht) nur schwer von den Handreichungen zu überzeugen, die die GEW als "Argumente für die Einführung" für die Lehrerschaft und die Eltern in den Schulen verteilen läßt.

Hinter der euphorischen Hervorhebung vieler ungeahnter Pro-Argumente kann man darin dann auch wenig intellektuelles Rüstzeug oder gar Praxisnähe entdecken. So will die Prognose, daß die "älteren Schülerinnen und Schüler" die Arbeit der Lehrer unterstützten, nicht automatisch realistisch erscheinen. Daß sich diese älteren Schüler bei eventueller Unterforderung aus Wissensdurst dann auch noch "um zusätzliche Arbeit bemühen", setzt dann bei den Sechs- bis Achtjährigen ein Menschenbild voraus, daß sich selbst erfahrene Hochschullehrer bei ihren Seminaristen vergeblich herbeisehnen. Das "Pro-Argument", daß "der Überblick über die Großgruppe erleichtert wird", läßt dann immerhin darauf schließen, daß die Verfasser der "Handhabung" (unter anderen auch Sabine Dübbers) wenigstens die Grundzüge der sozialistischen Dialektik verstanden haben. Warum eine "Mischung von nur zwei Jahrgängen schon nach zwei Jahren neue Räume, neues Unterrichtsmaterial und neue Lehrkräfte gibt", wirft dann endlich beim letzten Gutgläubigen Zweifel auf. Freilich entdeckt man einen pädagogischen Ansatz, der sinnvoll erscheint - zumindest den Anhängern des Egalitarismus: "Kein Kind ist immer das leistungsstärkste, kein Kind ist immer das leistungsschwächste."

Die in Berlin ab 2007 verpflichtende "Schulanfangsphase", bei der "jeder etwas anderes gut kann und dem anderen hilft" (Werbung des Berliner Senats), werde nun übrigens auch in anderen Bundesländern entwickelt, "das ist eben der Mainstream", gibt sich Dübbers zuversichtlich. Und gegen diesen konnte schließlich auch das unter demokratischem Aspekt eindeutige 59-zu-Eins-Votum am Elternabend wenig ausrichten: Wen jetzt das Portemonnaie am Wechsel auf eine Privatschule hindert, der kann seinem Sprößling nach den Sommerferien wenigstens eine Testantenrolle im reformistischen Feldversuch ermöglichen.


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