© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/07 04. Mai 2007

Die "Innere Führung" steht auf dem Prüfstand
Vor 100 Jahren wurde General Wolf Graf von Baudissin geboren / Er prägte das pädagogische Konzept des "Staatsbürgers in Uniform"
Clemens Range

Wolf Graf Baudissin - kaum ein anderer Offizier der Bundeswehr war so umstritten wie er. Sein Name wird gleichgesetzt mit dem Begriff des "Staatsbürgers in Uniform" , dem Leitbild der "Inneren Führung". Am 8. Mai vor hundert Jahren wurde er als einziges Kind des preußischen Regierungspräsidenten Theodor Graf von Baudissin in Trier geboren.

Nach zwei Semestern Studium begann Wolf Graf Baudissin 1925 seine Militärlaufbahn in dem traditionsreichen Potsdamer Infanterieregiment 9. Zwei Jahre später verließ er die Reichswehr, da er ein Gut der Familie übernehmen sollte. Doch schon 1930 kehrte der feinsinnige, etwas eitle, hochintelligente und wortgewandte Edelmann in die Armee zurück. Sowohl im Frieden als auch im Krieg fand er in Stäben Verwendung. Er geriet als Major im Stab des Feldmarschalls Rommel bereits 1943 in britische Gefangenschaft. Dort verfaßte er 1946 die Studie "Ost oder West - Gedanken zur deutsch-europäischen Schicksalsfrage", in der er seine Vorstellungen zur geistigen und politischen Neuorientierung Deutschlands entwickelte.

Mit wenig Begeisterung zur neugegründeten Bundeswehr

Anfang 1947 wurde Baudissin aus der Gefangenschaft entlassen, erlernte das Töpferhandwerk und folgte 1951 dem Ruf von Adenauers Sicherheitsberater Theodor Blank, in dessen Dienststelle zur Vorbereitung neuer deutscher Streitkräfte einzutreten, nur "mit wenig Begeisterung", wie er später sagte. Zusammen mit den späteren Generalen Graf Kielmansegg und Ulrich de Maizière focht er vehement dafür, einen Soldaten neuen Typs zu schaffen. Baudissin brach bewußt mit Traditionen und handelte sich dabei selbst von wohlwollenden Kameraden wie de Maizière harsche Kritik ein.

Graf Baudissin verstand inhaltlich die "Innere Führung" als ein pädagogisches Konzept zur Realisierung des "Staatsbürgers in Uniform" in der Truppe. In der Bundeswehrführung wurde davon ausgegangen, daß nur der gut geführte, gut motivierte und gut ausgebildete "Staatsbürger in Uniform" der effiziente Soldat sei, der allein gegenüber den Anforderungen eines künftigen Krieges bestehen könne. Eine Kernthese Baudissins lautete, jede Art von "Kadavergehorsam" werde in der Bundeswehr verschwinden. Der Soldat trete zu seinem Vorgesetzten in das Verhältnis der Partnerschaft. Er solle gegen einen Mißbrauch der Befehlsgewalt vorgehen und ungesetzliche Befehle in eigener Gewissensentscheidung ablehnen dürfen. Baudissin galt als Erfinder des "funktionalen Gehorsams".

Diese Thesen brachten dem Militärtheoretiker, der 1958 Brigadekommandeur wurde und damit nach mehr als dreißigjähriger Soldatenzeit erstmals eine Truppe - übrigens vorbildhaft - befehligte, immer wieder Kritik ein. So kam es, daß die Truppe die ihr durch die "Innere Führung" oktroyierten Methoden mit Unverständnis als "weiche Welle" empfand. Es waren die erfahrenen, altgedienten Soldaten mit einem Gespür für die Truppe, die in praxi die Kraft zur Korrektur besaßen. Baudissin selbst lief gegen die Abwertung seiner Lehre als "weiche Welle" Sturm. Denn eine verweichlichte Ausbildung und Formung des Soldaten lehnte auch er zutiefst ab.

Baudissin schaffte es wie kaum ein anderer zu polarisieren: Die meisten in der Bundeswehr dienenden früheren Wehrmachtsoffiziere hielt er in überheblicher Weise für unfähig, seinen Reformideen zu folgen. Der Bundeswehralltag zwang jedoch manchen Reformer zu der Erkenntnis, daß die innere Struktur einer Panzerabteilung der Wehrmacht sich von der eines Panzerbataillons der Bundeswehr kaum unterschied.

In seinem Buch "Armee gegen den Krieg" kam Baudissin 1966 schließlich zu dem bemerkenswerten Urteil: "Die Geschichte der Inneren Führung der Wehrmacht ist noch nicht geschrieben. Käme sie zustande, so ginge wohl daraus hervor, daß im Kriege in gut geführten Einheiten vieles praktiziert wurde, was in der Bundeswehr durch die Grundsätze der zeitgemäßen Menschenführung institutionalisiert ist. Innere Führung will nichts anderes, als soviel wie möglich von diesen Kriegserfahrungen in die Friedensausbildung hinüberretten, mit den Grundlagen des Rechtsstaates verbinden, den Lebensformen des Kriegsbildes wie Handwerk anpassen."

Baudissins Wunschbild vom "Staatsbürger in Uniform" erwies sich im Truppenalltag indes als weltfremd. Als er 1963 das Nato Defence College in Paris übernahm, fühlte sich der Generalleutnant damit abgeschoben. Für Furore sorgte der Graf nochmals 1967, als er in die nun auch für Soldaten zugelassene Gewerkschaft ÖTV (Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr) eintrat. Als Graf Baudissin im gleichen Jahr pensioniert wurde, lehnte er die für alle ausscheidenden Drei-Sterne-Generale obligatorische Ehrung mit dem Großen Zapfenstreich ab.

"Innere Führung" reduziert auf Rechtsanwendungen

Schon 1968 übernahm der im Auftreten verbindliche, humanistisch geprägte Offizier an der Universität Hamburg einen Lehrauftrag für moderne Strategie. Internationale Anerkennung in Rüstungskontrollfragen erwarb er sich schließlich als Direktor des Hamburger Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, das er bis 1984 leitete.

Mit dem Leitbild vom "Staatsbürger in Uniform" ist Graf Baudissin in die jüngste - offizielle - Militärgeschichte eingegangen. Dennoch: Fünfzig Jahre nach Gründung der Bundeswehr steht die "Innere Führung" nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen in den Auslandseinsätzen und mancher erkennbar gewordener Defizite in der Menschenführung nunmehr auf dem Prüfstand. In der täglichen Praxis reduzierte sich die Lehre der "Inneren Führung" im Laufe der Jahre im wesentlichen auf Recht und Rechtsanwendungen.

Insbesondere im asymmetrischen Krieg, in den die westlichen Staaten derzeit hineinschlittern, steht das "Markenzeichen der Bundeswehr", wie die "Innere Führung" genannt wird, zur Diskussion, wenn es um Prognosen zur Kampfkraft geht. Eine richtige "Feuertaufe" hat die Bundeswehr allerdings noch nicht erleben müssen - und mit ihr die Bewährungsprobe des Konzeptes "Innere Führung". Die kriegsgedienten und durch sie geformten nachwachsenden Vorgesetzten waren es, die den jungen Bundeswehrsoldaten ohne viel Aufhebens die "Innere Führung" vorlebten. Allerdings wurde dafür ein sehr viel treffenderer, historisch gewachsener und in Notzeiten bewährter Begriff verwandt: Kameradschaft.

Das Werk von Wolf Graf Baudissin, der mit 86 Jahren 1993 in Hamburg starb, steht somit vor einem Wandel und einer möglichen Rückbesinnung zu den von ihm einst in Frage gestellten "traditionellen soldatischen Tugenden".

Fotos: Bundeswehrsoldaten der ersten Stunde präsentieren 1957 die neuen Uniformen der Teilstreitkräfte: Die oktroyierten Methoden der "Inneren Führung" wurden von vielen Offizieren und Unteroffizieren mit Unverständnis als "weiche Welle" empfunden; General Wolf Graf von Baudissin (1907-1993): Erfinder des "funktionalen Gehorsams"


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