© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/07 27. April 2007

Gegen die sanfte öffentliche Tyrannei
Der neueste Band der Jenaer Vorlesungen des Philosophen Günter Zehm diagnostiziert die Mechanismen der "vierten Gewalt"
Harald Seubert

Die Maske zeigt, indem sie verbirgt. Mimesis verändert das Nachgeahmte, sie extrapoliert ein Ideal, hinter dem sich die Wirklichkeiten wie verblassende Schatten ausnehmen. Nicht nur, aber gerade in der medialen Moderne wird klar, wie sehr sich die Welt selbst nachahmt. Dies zeigt der neue Band von Günter Zehms Jenaer Vorlesungen in einer gekonnten Verbindung von Kulturgeschichte mit universalem Horizont und philosophischer Reflexion. Wie stets besticht die Brillanz von Zehms essayistischer Kunst. Seine Diskurse halten die Schwebe zwischen der Freilegung des Details und dem mit leichter Feder getupften Panorama.

Das Spiel betrachtet er als Zwischenglied zwischen Maske und Mimesis: Schillers Diktum, daß der Mensch nur ganz Mensch sei, wenn er spiele, wird bei Zehm gar zu einem "Ich spiele, also bin ich". Medialität ist aber schon in der biologischen Mimikry erkennbar. Dies zeigt Zehm, wenn er die verschiedenen, nach menschlichem Maßstab perfide zu nennenden Mimikryformen im nicht-menschlichen Leben Revue passieren läßt. Eindrucksvoll plastisch wird sodann die Geburt der Tragödie aus dem Kultus evoziert, der seltsame Schauder, den die Nachahmung der Götter mit dem Ziel ihrer Bannung bedeutete. Zu Recht verweist Zehm dabei auf die mythologische Nähe zwischen Apoll und Dionysos, die selbst Nietzsche entging. Mit der Tragödie begannen Nationbildung und die Politik in Hellas und damit in Europa.

Zu einem nicht geringen Teil ist dieses Buch eine elegante philosophische Geschichte des europäischen Theaters: Sie spiegelt die barocke Welt als ein unübersehbar verwirrendes Labyrinth, sie zeigt den Verlust an der sakralen numinosen Bedeutung des Theaters in der Neuzeit, die durch keinen Rückgriff auf Aristoteles wettzumachen war, denn Aristoteles tradierte selbst kaum mehr etwas von dem kultischen Grund, auf dem er ruhte. Wunderbare Beobachtungen gelten Shakespeare, den Zehm als einen unendlich zärtlichen Kenner des Menschlichen würdigt; es lohnt sich, seinem Hinweis auf Nicodemus Frischlin nachzugehen, dem Zehm ein Shakespearianisches Potential zuerkennt, aber bemerkt, daß der Gebrauch der lateinischen Schulsprache dem Meister die ganze große Durchschlagskraft geraubt hätte. Lessing orientierte sich schließlich in seiner Theorie der "Hamburgischen Dramaturgie" an Aristoteles, als Dramatiker aber nahm er schon Shakespeares Kunst auf.

Eine große Zäsur setzt Zehm mit Kleist, den er Schillers Geschichtsphilosophie und der Auffassung der Schaubühne als moralischer Anstalt kontrastiert. Nur in der Anmut des Tieres, einer Mimesis besonderer Art, kommt der Mensch über die Entzweiungen der Moderne hinaus. Nach dem Zertrümmerer jedweder Idealität in der Geschichte, Georg Büchner, dramatische Konflikte zu entwickeln, erwies sich als das Dilemma Hebbels. Seine Aversion gegen ein Theater des penetranten Zeigestocks und damit gegen den dramaturgischen Brechtianismus verhehlt Zehm nicht.

Das Feld von Maske und Mimesis führt sodann auch zu scharfsinnigen Überlegungen zum Verhältnis von gesprochenem Wort und Schrift, vor allem zur strukturellen Unmöglichkeit, Sprache in operationalisierbare binäre Computercodes umzusetzen. Nicht zu übersehen ist die Maskenmimesis der Mode, ihr gilt wie anderen Formen des interesselosen Spiels auch Zehms stille Zuneigung: so ruft er die Reliefabbildung auf dem Sarkophag der ägyptischen Prinzessin Kawit aus der elften Dynastie (2000 vor Christus) in Erinnerung, die ohne jede Überhöhung gezeigt wird, wie sie sich schminkt. Von hier her ist der Weg zum Dandy nicht weit (dessen von Oscar Wilde und Thomas Mann erkannte Verwandtschaft mit dem Märtyrer wird leider verschwiegen), und ebensowenig zur Einsicht, daß sich dessen Lebensform ad absurdum führt in Zeiten des gestanzten Massenkonsums, in dem sich Identität nach Marken bemißt, aber nichts mehr mit Individualität zu tun hat.

Martin Walsers leidgeprüfte Trennung zwischen Sprache und dem Vokabular von Meinung und Herrschaft bereitet ihm zu Recht Unbehagen. Erscheint nicht auch dort, wo authentisch zu denken versucht wird, eine Sprachprägung, an der Lehrer- und Schülerschaften, gerade in der Philosophie, zu erkennen sind? Einige wunderbare Bemerkungen findet man über den Gebrauch des Zitats, das zu Worthülse und Totschläger degenerieren kann, das sich aber auch als inspirierender, Literatur und Kunst erst ermöglichender Funke erweisen kann. Zehm durchleuchtet unterschiedliche Funktionsweisen von Presse und Massenmedien, weltkundiger Philosoph und erfahrener Redakteur, der er ist. Er zeigt aber auch en passant, welcher Behaglichkeitsverlust durch neue filmische "Grusicals" vonstatten geht, indem das Grauen durch kaum merkliche Ritzen in den Alltag dringt.

Zentral sind die letzten beiden Vorlesungen, die einen Blick auf das volle Panorama gegenwärtiger öffentlicher Medialität werfen: Zehm zeigt Demokratie im Spiegel einer Medial-Inszenierung, hinter der ein Factum brutum nicht mehr freizulegen ist. Medialität durchdringt alles, Spin doctors und Dementiermaschinen verschleiern die Grenze zwischen Simulation und Factum brutum. Tocquevilles Diagnose, daß die Demokratie Gefahr laufe, einer sanften öffentlichen Tyrannei auf den Leim zu gehen, scheint längst überboten. Zehm spricht davon nicht als konservativer Kulturkritiker, sondern als kühler, höchst perzeptionsfähiger Diagnostiker, der um so überzeugender zu erkennen gibt, welche Gefahr in solchen Tendenzen liegen. Es stellt sich im Anschluß an Botho Strauß die Frage, ob sich im Geschwätz noch Geheimnisse hüten lassen. Doch auch den Dichtern mißtraut Zehm. Damit die Sprache sprechen kann, müssen auch sie schweigen lernen, die Vorlesungen finden deshalb ihre Fermata mit Mozarts "Zauberflöte".

Man liest dieses unendlich kluge Buch mit Zustimmung, vielfach angeregt, belehrt, erinnert. Zwei Einwände seien indessen nicht verschwiegen: Der erste, äußerliche betrifft die Form der Fußnoten. Sie führen stets an leicht handhabbaren Einführungen an die jeweils behandelten Konstellationen heran. Dabei werden aber auch Arbeiten des Einführungsgenres genannt, die wenig brauchbar sind und in keiner Weise in Zehms Richtung argumentieren. Großartige Zitate bleiben dagegen unnachgewiesen. Der zweite Einwand: Wieviel könnte gerade für dieses Thema von Platons Auseinandersetzung mit der Doxa gewonnen werden. Zehm schenkt Platon entschieden zu wenig Aufmerksamkeit und Vertrauen.

In diesem Band der Vorlesungen erweist sich der Philosoph Günter Zehm als einziger seiner Art: als spielfreudiger und sehr kluger Commonsense-Denker mit dem Blick in Tiefen und Abgründe. Sein Philosophieren stellt erneut eine große Leichtigkeit unter Beweis; doch stärker als bislang wird darin ein ernster Blick auf die Krisen und Agonien der Gegenwart erkennbar.

Günter Zehm: Maske und Mimesis. Eine kleine Philosophie der Medien. Edition Antaios, Schnellroda 2007, gebunden, 297 Seiten, 25 Euro

 

Prof. Dr. Harald Seubert lehrt Philosophie an den Universitäten Halle-Wittenberg, Erlangen-Nürnberg und Posen.

Foto: Wolfgang Mattheuer, Zuschauer, Öl auf Hartfaserplatte, 1985: Demokratie im Spiegel einer alles durchdringenden Medial-Inszenierung


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