© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/07 20. April 2007

Weltreich der großen Zusammenhänge
Der britische Historiker Christopher A. Bayly wagt sich an eine Gesamtdarstellung des 19. Jahrhunderts
Andreas Graudin

Ein Buch über ein ganzes Jahrhundert zu schreiben, brächte einen deutschen Historiker vermutlich schon in Zunftverruf. Epochengeschichte zu beschreiben und zu interpretieren, ist immer ein Wagnis für den Autor. Leicht macht der Generalist sich die Spezialisten und Steckenpferdreiter zu Kritikern, wenn er mit großzügiger Feder Einzelaspekte komprimiert und die Verästelungen nicht berücksichtigt. Nur ganz weniges ist unter historisch Gelehrten in Deutschland tödlicher als das Verdikt der Populärwissenschaft, das dem Generalisten droht. Ganz anders der angelsächsische historische Wissenschaftsansatz, der in der Tradition Arnold Toynbees und George Trevelyans den empirischen Blick auf das Wesentliche fördern will. Vielleicht korrelieren Empirie und Empire deshalb so eng, weil das Leben in einem Weltreich den Blick auf die großen Zusammenhänge fördert. Zwar ist das Empire längst Geschichte, aber bekanntlich bestimmt das Bewußtsein das Sein, und immerhin lehrt Christopher A. Bayly Imperial and Naval History an der Universität Cambridge.

Das 19. Jahrhundert - Bayly läßt es 1780 ein wenig willkürlich beginnen und als Epoche 1914 enden - verdichtete Zeit und Raum und brachte die erste echte Globalisierung durch den Welthandel und ökonomische Intensivierung. Die Apologetik des Welthandels als Triebfeder historischer Prozesse führt bei Bayly allerdings nicht zur Negation des Nationalstaats. Auch dieser sei ein Kennzeichen von Modernität, indem er die in ihm bestehenden autochthonen Kulturen vereinheitliche. Im Hinblick auf Großbritannien, Frankreich oder Spanien ein nicht von der Hand zu weisendes Argument, und auch die Reichsgründung Bismarcks ist als Modernisierungsprozeß deutbar und war Voraussetzung für die erstmalige Rolle Deutschlands als internationaler Handlungsmacht. Der interessanteste und wohl neue Denkansatz des Buches tritt damit klar hervor. Eine Botschaft an all jene, die ranzige Planwirtschaft im autarken Wolkenkuckucksheim für national halten: Nation und Globalisierung sind nicht zwingend Antithesen. Sucht den nationalen Vorteil im weltweiten Wettbewerb der Nationen! Ein Denkanstoß für eine wahrlich moderne Rechte, die es in Deutschland jedenfalls noch nicht gibt.

Unvoreingenommen kommt der Versuch Baylys einer universellen Theorie des Nationalismus daher. Dabei unterscheidet er drei Gruppen: "alte Patriotismen", moderne Nationalismen und Klone oder "Nabel". Der "alte Patriotismus" stützt sich auf ein stabiles traditionelles soziales Netzwerk einer meist feudalen Gesellschaftsform wie etwa in Japan oder Äthiopien. Der moderne Nationalismus tritt oft als Befreiungsnationalismus gegen soziale Unterdrückung (Frankreich 1789) oder häufiger Fremdherrschaft und Unterdrückung (Preußen 1813, Deutschland, Polen und Ungarn 1848) auf. Schließlich das Phänomen des Nabel- oder Klonnationalismus: "Einige waren Klone mit falschen Nabeln, einige waren Designerbabys ganz ohne Nabel. Wieder andere waren virtuelle Kinder, Entwürfe auf dem Reißbrett, wie der Zionismus des 19. Jahrhunderts."

Bayly konstatiert zwischen 1780 und 1914 einen Bedeutungswandel des Staates und macht als Ursache den militärisch-technischen Fortschritt aus. Ab 1800 sei für den Bau von eisernen Schlachtschiffen oder schwerster Artillerie soviel Kapital und Organisation erforderlich gewesen, daß nur noch moderne Staaten als echte Akteure übrigblieben. Auch hier fällt der erfrischende britische Pragmatismus ins Auge. Während deutsche Staatstheoretiker des 19. und 20. Jahrhunderts die allgemeine Wohlfahrt oder den inneren Frieden als Staatszweck in den Vordergrund stellten, ist es bei Bayly die Rüstung. Die Voraussetzung für das Bestehen im Wettkampf zitiert Bayly: "Ein gutes Verteidigungssystem für das neue Zeitalter verlangte nicht nur die militärische Ausbildung der gesamten männlichen Bevölkerung, sondern auch Ausgaben für strategische Eisenbahnlinien, die Akkumulation riesiger Mengen Rüstungsmaterials sowie die Aufrechterhaltung einer hohen Geburtenrate und eines hohen Bildungsstandards".

Baylys Globalgeschichte läßt Kunst, Literatur, Wissenschaft und Religion nicht aus. Das 19. Jahrhundert ist der Siegeszug des Christentums in Afrika. Weniger bekannt ist, daß in Reaktion auf die weltweit erfolgreiche christliche Missionierung auch Hinduismus, Buddhismus und Islam expandierten. Der Hinduismus wurde zum Amalgam des indischen Nationalismus. Buddhisten und Muslime entfalteten eine nie zuvor gekannte weltweite Bautätigkeit, und der Mahdi-Aufstand im Sudan kennzeichnete das eindruckvolle Auftreten eines chiliastischen Islamismus. Zugleich beschreibt Bayly die erste Abwendung breiter Kreise in Europa von der Religion. Natürlich werden auch die gewaltigen soziologischen Verschiebungen der Epoche gestreift. Die wichtigste war die schleichende Ablösung des Adels durch das wirtschaftlich regere und wohlhabendere Bürgertum. Überall in Europa büßte der Adel seine wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung ein. Das auf Bildung und Besitz beruhende Bürgertum verdrängte ihn um die Mitte des 19. Jahrhunderts auch aus der Mehrheitsposition in den Offizierkorps der Armeen.

Das Ende der Epoche der Geburt der modernen Welt wird nach Bayly mit "dem merkwürdigen Ende" des Liberalismus eingeläutet. Labour und Tories zermalmten Gladstones alte britische Liberal Party. Auf dem Kontinent entstanden überall marxistische Arbeiterparteien, die in einer teils konfessionellen, teils nationalistischen Rechten sehr bald ihren Antipoden fand. Statt des Freihandels griffen weltweit Schutzzollpolitik und Protektionismus um sich. Die erste Globalisierung stagnierte ab etwa 1870. Die Welt war verteilt. Briten und Amerikaner pochten auf die Freiheit der Meere. Das war aber nicht mehr Freihandel, sondern Protektionismus des noch von den Briten dominierten Welthandels.

Es ist von Bayly zwar nicht als Prophezeiung gemeint, aber die erste echte Globalisierung mündete in der Katastrophe des Ersten Weltkrieges. Das bedeutet nicht zwingend die erneute Katastrophe bei einer erneuten Weltwirtschaftskrise, zeigt aber, daß auch die heutige Globalisierung nicht linear verlaufen wird. Auf ihrem Kulminationspunkt werden die Gegenbewegungen immer wirksamer. An der immer engeren Vernetzung der Welt ändert das nichts.

Ein Auxiliarwerk für Historiker, die gelegentlich auf den Feldherrnhügel der Weltgeschichte steigen wollen, um ihren Kompaß zu justieren. Geeignet für Fortgeschrittene und auch Anfänger mit Vorkenntnissen in kontinentaleuropäischer Geschichte zur kritischen Lektüre.

Christopher A. Bayly: Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780-1914. Campus Verlag, Frankfurt 2006, gebunden, 650 Seiten, 49,90 Euro

Bild: Königin Victoria im Krönungsornat 1837, Gemälde von Sir George Hayter: Nationalen Vorteil im weltweiten Wettbewerb suchen


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