© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/07 13. April 2007

Finanzroulette im Reich der Mitte
China: Der "schwarze Dienstag" an der Schanghaier Börse hat die Notwendigkeit von Reformen im Banken- und Börsenwesen verdeutlicht
Kai-Alexander Schlevogt

Geld, das Lebensblut einer Volkswirtschaft, bewegt die Welt und kann sie zum abrupten Stillstand bringen. Angesichts seiner vitalen Rolle war es eines der großen Rätsel unseres postmodernen Zeitalters, wie China ohne ein gut funktionierendes Finanzsystem wirtschaftliche Ausnahmeleistungen erbringen konnte. Die Analogie ist ein Rennwagen ohne Rohre, die den Benzinvorrat in einen durstigen Motor leiten. Die Schanghaier Börse erholte sich zwar nach dem Kurseinbruch vom 27. Februar, als die Aktienpreise um fast neun Prozent nachgaben. Das plötzliche Drama zeigte aber, daß selbst die kommunistischen Herrscher der Volksrepublik nicht immer über den Wirtschaftsgesetzen schweben können.

Das "Cash"-Fettpolster schwächt den Reformdruck

Das chinesische Finanzsystem weist drei fundamentale Schwächen auf. Diese können das Reich der Mitte und - aufgrund seines wachsenden internationalen Einflusses - auch den Rest der Welt ins Chaos stoßen. Die gute Nachricht zuerst: Das Finanzkapital sprudelt in der Volksrepublik. 2005 lag die nationale Bruttosparquote bei 49,7 Prozent. Ersparnisse feuern angebotsbedingtes Wachstum an, welches von Arbeit, Kapital und Produktivität abhängt. China verfügt über opulente Mittel für Infrastrukturinvestitionen. Selbst ein visueller Vergleich zeigt, daß das Transportnetz in China viel besser entwickelt ist als in Indien, welches insgesamt viel weniger Mittel mobilisiert.

Allerdings sind thesaurisierte Unternehmensgewinne, die rund 20 Prozent des Bruttosozialproduktes ausmachen, die wichtigste Quelle der chinesischen Ersparnisse, nicht etwa die Sparanlagen von Haushalten, die nun niedriger sind als in Indien. Chinesische Unternehmen wenden sich von niedrigen Sparzinsen ab, die deutlich unter der Wirtschaftswachstumsrate liegen. Statt dessen agieren sie lieber selbst als Banken und kanalisieren Profite in Projekte ihrer Wahl. Allerdings erzielen solche Investitionen häufig niedrige Renditen, da die Auswahl von Anlagemöglichkeiten auf ihrem Radarschirm begrenzt ist und es ihnen an ausreichenden Kompetenzen in der strategischen Diversifizierung fehlt.

Sie wären besser beraten, dem Beispiel westlicher Rohstoffproduzenten zu folgen, die bei unverhofften Gewinnen häufig Aktien zurückkaufen oder Sonderdividenden ausschütten. So würden chinesische Manager ihr überschüssiges Bargeld an die Kapitaleigner zurückgeben, die profitablere Investitionen ausfindig machen können. Aus einer Vogelperspektive betrachtet, schwächt das "Cash"-Fettpolster im System zudem das Dringlichkeitsgefühl der chinesischen Führung, notwendige Veränderungen in der Finanzarchitektur umzusetzen.

Mangel an hochqualifizierten Kreditanalysten ist eklatant

Größere Probleme lauern in der Vermittlung und Verwendung der Ersparnisse. Sie können entweder über das Bankensystem oder die Kapitalmärkte an Firmen geleitet werden. Beide sind aber ziemlich ineffizient in China. Banken leiden noch unter dem Vermächtnis der früheren politisch gelenkten Kreditvergabe. Sie folgte der verhängnisvollen kommunistischen Mode, Mittel auf der Basis der Bedürftigkeit anstelle der Gewinnaussichten zu verteilen. Staatsunternehmen wurden so mit Liquidität überflutet. Noch heute erhalten die sich rasant entwickelnden Privatunternehmen, welche die wichtigste Wirtschaftskraft darstellen und erheblich produktiver als der staatliche Sektor sind, nur 27 Prozent des gesamten Kreditvolumens. Eine weniger attraktive Finanzierungsalternative für private Unternehmen mit unzureichenden Gewinnreserven ist es, sich den informellen Kreditmärkten zuzuwenden und in der Regel hohe Kapitalkosten auf sich zu nehmen.

Außerdem mangelt es den Banken immer noch an einem Kader hochqualifizierter Kreditanalysten, die Investitionsprojekte korrekt bewerten können. Infolgedessen werden finanzielle Mittel nach wie vor häufig falsch plaziert, was zu einer hohen Forderungsausfallquote führt. Wenn sich chinesische Banken in neue Geschäftsfelder vorwagen, wie beispielsweise Verbraucherkredite und komplizierte Derivate, wird das Kapital noch höherem Risiko ausgesetzt. Trotz Reformen sind auch die Kapitalmärkte in China rückständig. Gemessen an internationalen Standards ist die Kapitalisierungsquote der Aktien- und Anleihemärkte verschwindend gering. Dies limitiert die Finanzierungsmöglichkeiten der Unternehmen.

Die Strukturen der Unternehmensüberwachung sind schwach. Die Kommunistische Partei Chinas, die neben der Steigerung des Unternehmenswertes noch viele andere Ziele verfolgt, übt nach wie vor einen großen Einfluß auf die Strategien des Aufsichtsrates vieler Staatsunternehmen aus.

Es gibt auch nicht genügend aktivistische Aktionäre, welche die Betriebsführung zu Produktivitätssteigerungen anspornen und Strafaktionen im Markt für Unternehmenskontrolle einleiten, wenn jene keine überzeugenden Ergebnisse erzielt. Das Wachstum der Anleihemärkte behindert der Bürokratismus, zum Beispiel lange Genehmigungsverfahren und Quotenregelungen.

Schließlich verwenden die Empfänger Finanzmittel häufig unverantwortlich. Viele Leiter von Staatsunternehmen, die das Privileg "weicher Budgetgrenzen" genießen, glauben sich die Freiheit nehmen zu dürfen, in riskante Projekte zu investieren. Wenn etwas schiefläuft, rufen sie einfach mehr Mittel ab oder schleichen sich ohne Bestrafung davon. Es überrascht nicht, daß sie häufig der Neigung verfallen, erdrückende Überkapazitäten aufzubauen, insbesondere in der Fertigung. Übermäßige Investitionen führen auch zu spekulativen Blasen im Immobiliensektor. In vielen Wirtschaftszweigen hat Überproduktion wilde Preisschlachten und Deflation zur Folge. Diese senkt häufig den Verbrauch, da viele Konsumenten Käufe in der Erwartung noch niedrigerer Preise in der Zukunft zurückstellen.

Das ungewöhnlich hohe Investitionsaufkommen in China führt zu hohem Wachstum im nominalen Bruttosozialprodukt, welches Beobachter von der ungesunden Wirtschaftsrealität der Mittelfehlvergabe ablenkt. Ein beachtlicher Teil der chinesischen Ersparnisse wird dazu verwendet, US-Schuldverschreibungen mit geringen Renditen zu erwerben, was den Wechselkurs des chinesischen Yuán (Rénmínbì/"Volkswährung") niedrig hält und Exporte beflügeln soll. In einem Akt ungewollter Großzügigkeit finanzieren somit viele arme chinesische Kleinsparer das Leistungsbilanzdefizit des reichen strategischen Wettbewerbers und helfen der US-Zentralbank, die Zinsen niedrig zu halten.

Ungleichgewichte bedrohen das globale Finanzsystem

Da der Preiswettbewerb Umsatzwachstum bremst und hohe Importpreisen, ein Resultat des schwachen Wechselkurses, Kosten erhöhen, sind Renditen in China häufig niedrig. Der Kreis des Mittelflusses schließt sich, wenn magere Erträge und Erlösquoten die Sparzinsen senken, welche Banken den Anlegern für ihre Einlagen bieten. Niedrige Renditen könnten eine Kapitalflucht ins Ausland auslösen, wenn China Kapitalausfuhrkontrollen abschafft. Die Ungleichgewichte, die in Chinas Devisenreserven von über einer Billion US-Dollar ihren deutlichsten Ausdruck finden, bedrohen das globale Finanzsystem.

Im scharfen Gegensatz zur materialistischen Weltanschauung des Karl Marx ging der Gründer der Volksrepublik China und Stammvater des desaströsen "Großen Sprung vorwärts", Mao Tsedong, im fortgeschrittenen Alter davon aus, daß Ideen wichtiger sind als Tatsachen. Selbst die pragmatischen Nachfolger hegen insgeheim den Glauben, daß schierer Wille und der überbeanspruchte Begriff der chinesischen Besonderheit materielle Zwänge überwinden können. Die erfreuliche Bilanz ihrer Tätigkeit berechtigte sie, selbstbewußt zu sein: Nichts ist so erfolgreich wie Erfolg! Der größte Tageskurseinbruch in einem Jahrzehnt sollte ihnen jedoch die Dringlichkeit vor Augen führen, die Lücke zwischen der Einsicht in die Notwendigkeit weiterer Reformen und deren tatsächlicher Umsetzung zu schließen.

Im Hinblick auf systembedingte Instabilitäten müssen die chinesischen Voluntaristen ihr Midas-Händchen beweisen, indem sie Zweckoptimismus mit grundlegenden, an die chinesischen Verhältnisse angepaßten Reparaturen und Verbesserungen an ihrem finanziellen Kartenhaus paaren.

 

Prof. Dr. Kai-Alexander Schlevogt lehrte an der Peking Universität. Er war strategischer Unternehmensberater bei McKinsey in China.

Foto: Filiale der Industrial Bank in Fuzhou/Provinz Fujian: Informelle Kreditmärkte mit hohen Kapitalkosten


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