© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/07 13. April 2007

Kolumne
Mitleid
Rolf Stolz

Ostern liegt hinter uns. Leiden, Sterben, Überwindung von Leid und Tod - dieses uralte Menschheitsthema ist nirgendwo glaubwürdiger Wirklichkeit geworden als in Kreuzigung und Auferstehung Christi. Niemand hat mehr gelitten als unser Herr am Kreuz, niemand gibt uns mehr Hoffnung in den Abgründen menschlicher Wichtigtuerei und Nichtigkeit. Dieser Blick auf das Bleibende ist hilfreich, um unsere kleinen Gegenwartskatastrophen in einer angemessenen Relation zu sehen. Wir, die nicht den Götzen der Pawlowschen Massenkonditionierung opfern, werden nicht gekreuzigt. Nur im Ausnahmefall und eher am Rande als in der Mitte Europas werden einzelne Widerständler umgebracht.

Aber der Pöbel, der "Kreuzigt ihn!" brüllt, der ist auch zweitausend Jahre nach Christus präsent. Goethe hatte recht, als er Eckermann versicherte, wenn Jesus wiederkäme, würde er ein zweites Mal die Passion erleiden. Haßkampagnen haben Konjunktur - aber wie alle Kampagnen gehen sie vorbei und hinterlassen wenig Spuren. Vergessen wir nicht, mit welcher Hysterie nach 1918 und nach 1945 die Linke diffamiert und verfolgt wurde - und wie sich dies geändert hat. Damals vermischte sich die notwendige Gegenwehr gegen den Stalinismus mit Hexenjagd gegen kritische Demokraten. Einzelne zutreffende Vorwürfe legitimierten diese Politik sowenig, wie heute die Kritik am NPD-Spuk die Anti-Rechts-Amokläufe rechtfertigt.

Es ist nicht das Volk, es sind auch nicht die Hartz-4-Bezieher und die Obdachlosen, die sich 2007 in Deutschland Haßorgien hingeben gegen die planmäßig verteufelten Infragesteller des Bestehenden. Es ist das denkfaule und ignorante pseudointellektuelle Spießerpack, das in wuchernden Netzwerk-Subkulturen das gesellschaftliche Leben überziehen und ersticken will. Es sind die gelehrigen Adepten Adolf Hitlers, die unter der Maske des Antifaschismus behaupten, gegen Rechts zu sein und die in Wahrheit gegen das Recht und die Freiheit kämpfen. Von ihnen, die nicht denken wollen, Respekt gegenüber den Andersdenkenden zu erwarten, wäre absurd. Sie hassen sich selbst, sie hassen alle, die nicht so miserabel sind wie sie selbst.

Wir aber sollten nicht hassen, sondern Mitleid empfinden für mentale Insuffizienz und emotionale Impotenz. Mit der Macht des Geistes, mit der Fackel der Wahrheit sollten wir sie freundlich und entschieden ins Abseits drängen - in ein Reservat für anachronistische Sektenapostel.

 

Rolf Stolz war Mitbegründer der Grünen und lebt heute als Publizist in Köln.


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