© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/07 06. April 2007

Polemik aus der Hedonistenecke
Eine Kritik an der "neuen Bürgerlichkeit" aus der kleinen Welt des linken Establishments
Ellen Kositza

Christian Rickens, Jahrgang 1971 und Redakteur des Manager Magazins, versteht sein Buch über die "neuen Spießer" - wahnsinnig originell mit dem "deutschen" Gartenzwerg auf dem Titel - als "Antwort auf Frank Schirrmacher, Eva Herman und & Co". Zeitgeist, quo vadis? fragt man sich angesichts der Konstellation, die sich ungefähr folgendermaßen darstellt: Etwa ein Dutzend Autoren - die ebengenannten nebst "Konsorten" alias Peter Hahne, Paul Kirchhof oder Bernhard Bueb - haben höchst erfolgreich ihre konservativen Schriften auf den Markt der Meinungen getragen, und schon sind, quantitativ übermächtig, eine Vielzahl an Schnellfeuergeschützen in Stellung gebracht, um die geistig-moralischen Besitzstände der vergangenen Jahrzehnte zu wahren. Das wären nach Rickens Emanzipation, Multikulturalismus und, immer wieder, rauf und runter, der Individualismus. Den vor allem sieht Rickens durch die Protagonisten einer "neuen Bürgerlichkeit" gefährdet.

"Wo soll man bei soviel Unfug mit dem Argumentieren anfangen?" Der Autor meint damit die familienpolitischen Ansinnen von Eva Herman, Udo di Fabio und Norbert Bolz, die Rezensentin meint Rickens (klar: kinderlos). Was hat uns dieser - nebenbei: vielgekaufte - Autor zu sagen, der da betont aus persönlichen Erfahrungen und privatem Umfeld schöpft? Etwa, daß die unteren Gesellschaftsschichten sehr wohl eigenverantwortlich mit ihren neuen Freiheit und einem subventionierten Leben umgehen können. Wer fragt da schon nach positiven Beispielen? Doch nur der Spießer! Für Rickens reicht der Hinweis, daß Gutsherren schon immer eine Abneigung gegen trinkendes Gesindel sowie ein Interesse an dessen Unfreiheit hatten. Gegen Herwig Birgs demographische Unheilsszenarien und dessen Warnung vor unbegrenzter Einwanderung gerichtet, kann Rickens nur naßforsch äffen: "Fremde Mann nix gut für deutsche Kultur, nix kenne Schiller, nix kenne Grundgesetz." Warum eigentlich zähle Birg nicht "all die Polanskis und Zikowskis" (Rickens spielt auf die aus den deutschen Ostgebieten Geflüchteten und Vertriebenen an) zur zugewanderten Bevölkerung? Solcherart feine Auseinandersetzung mit ungeliebten Autoren - die in ihren Büchern grundsätzlich "orakeln" und "posaunen" - ist hier die Regel. Anzeichen der Verwahrlosung via Fastfood, Schund-TV und tätowiertem Steißgeweih? Ach was, all dies sei ein "spannender Austausch zwischen bürgerlicher und Unterschichtkultur". Rentenproblem? Nö, meint Rickens, wir haben allein ein wirtschaftliches Wachstums­problem.

In seinem doch sehr versöhnlichen Epilog nimmt Rickens erstens der Kritik einigen Wind aus den Segeln, da er eingesteht, womöglich selbst ein "Spießer" zu sein, ein linker, versteht sich. "Reagiere ich womöglich ebenso intolerant auf Verstöße gegen die geistigen Schablonen meines Milieus, wie es der Reihenhausbesitzer in seinem Milieu tut?" Diese ehrliche Selbsteinschätzung trifft ziemlich genau des Pudels Kern. "Selber Spießer!" hat es bei der Lektüre nämlich unaufhörlich im Rezensentenkopf geechot, wo Karrierchen als Selbstverwirklichung, die teuer gemietete Altbauwohnung als freiheitlicher Chic und die Satz für Satz bemühte Süffisanz im kommentierenden Zitieren als witzig-lässige Abrechnung verkauft wurde. Wenn die vom Autor gescholtene neue Bürgerlichkeitspropaganda tatsächlich so etwas wie alter Wein in neuen Schläuchen sei, dann gleicht Rickens' Aufwasch einer abgestandenen Cola im frischgespülten Glas: Modernitätsgewäsch von vorgestern.

Zweitens möchte Rickens die "Neue Bürgerlichkeit" als Medienphänomen deutlich von tatsächlich praktizierten Lebensstilen trennen. Also: "Einfamilienhaus und Ikea-Family-Card" sind schon okay, sogar CDU-Mitgliedschaft, Betonfrisur und sieben Kinder (die Familienministerin gilt Rickens als positiver Modellfall), solange dies und andere "bürgerliche" Lebensentwürfe nicht als wertvoll und nachahmenswert propagiert werden. Gebärweiber, Tischgebete und Hausmusik sind, so Rickens, ja nur "Minderheitenphänomene" und werden es bleiben: Allzuweit dürften die neuen Bürgerlichen "das Rad der Individualisierung nicht zurückdrehen können. Dazu ist Deutschland längst eine viel zu bunte Republik geworden."

Umgekehrt verhält es sich freilich anders: Die medialen Propagandisten einer unbegrenzten Weltoffenheit, jene berufsmäßigen Verharmloser argumentieren affirmativ zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Und die ist eben, allem Altbaustuck zum Trotz, weit entfernt von einem großen freiheitlichen Wurf. Die Rickens unseres Landes, die eigentlichen Neo-Spießer, sind es doch, die sich selbst Gartenzwerge und Wackelhündchen aufstellen! Daß sie diesen Kitsch dann hip als Retro-Stil verkaufen, ist der eigentliche Etikettenschwindel.

Christian Rickens: Die neuen Spießer. Von der fatalen Sehnsucht nach einer überholten Gesellschaft. Ullstein Verlag, Berlin 2006, broschiert, 288 Seiten, 14 Euro

Foto: So ungefähr stellt sich Christian Rickens den "Spießer" bei der Teestunde vor: Abgestandene Cola im frischgespülten Glas


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