© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/07 06. April 2007

Vertrautes verfremdet
Strammer Spaziergänger: Der Berliner Maler Michael Otto
Thorsten Thaler

Promenadologie, das gibt es tatsächlich, ist die Wissenschaft vom Spazierengehen. Laut ihrem Begründer Lucius Burckhardt (1925-2003) geht die Spaziergangswissenschaft von der These aus, "daß die Umwelt nicht wahrnehmbar sei, und wenn doch, dann aufgrund von Bildvorstellungen, die sich im Kopf des Beobachters bilden und schon gebildet haben".

Alle Orte, die man als Spaziergänger durchstreift, vom Parkplatz bis zum Park, seien Konstrukte, "die sich aus Lesefrüchten, geographischen Kenntnissen, Bildern und Prospekten gebildet haben und die während des Spaziergangs abgerufen werden". Das erst ermögliche dem Spaziergänger, die Landschaft überhaupt wahrzunehmen. Die Promenadologie beschäftigt sich also nach Burckhardt mit diesen "vorfabrizierten Vorstellungen und mit dem, was von der Wirklichkeit wegfällt, wenn das Gesehene an dieses Bild angepaßt wird". Gelehrt wird diese neue junge Wissenschaft heute, bundesweit einmalig, von Burckhardts Schüler Martin Schmitz an der Universität Kassel.

Bestimmte Typen von Spaziergängern sind freilich schon immer nicht nur aus Spaß an der Freude oder zur Erholung durch die Lande flaniert. Empfindsame Geister wie Schriftsteller oder Bildende Künstler haben im Spazierengehen stets mehr gesehen als einen profanen Zeitvertreib. Robert Walser zum Beispiel mußte spazieren, "damit ich mich belebe und die Verbindung mit der Welt aufrechterhalte, ohne deren Empfinden ich weder einen halben Buchstaben mehr schreiben, noch ein Gedicht in Vers oder Prosa hervorbringen könnte".

Auf "weitschweifigem Spaziergang", so Walser weiter, "fallen mir tausend brauchbare Gedanken ein, während ich zu Hause eingeschlossen jämmerlich verdorren, vertrocknen würde". Ein Spaziergang habe die Eigenschaft, "daß er mich spornt und zu fernerem Schaffen reizt".

Ähnliches dürfte auch für den Berliner Maler Michael Otto gelten. Eine Auswahl neuerer Bilder des 1938 in Luckenwalde geborenen Otto sind gerade unter dem Titel "Regierungsviertel und andere Schaustücke" in der Galerie Mutter Fourage in Berlin-Wannsee zu besichtigen. Besonders seine im Stil des magischen Realismus gehaltenen Ölgemälde zeigen vordergründig gegenständliche Wirklichkeit, die auf einer zweiten Bedeutungsebene aufgeladen und durchdrungen ist von Empfindungen, Stimmungen, Ahnungen, Grübeleien, Halluzinationen, Träumen und Alpträumen.

Viele Motive Michael Ottos, der sich selbst als leidenschaftlichen, "strammen" Spaziergänger bezeichnet, beruhen auf Eindrücken von Reisen, vorzugsweise nach Rumänien, von Fahrten in die Mark Brandenburg oder ausgedehnten Spaziergängen durch Berlin.

In einem dem Ausstellungskatalog beigefügten Essay von Heinz Schönemann, ehedem Stiftungskonservator der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, heißt es zu dem als "Schlüsselbild" Ottos vorgestellten "Grübeln im Park" (siehe unsere Abbildung): "Die hohe Stilisierung der Umgebung und aller Vorgänge bedingt andere Reaktionen, Verfremdung fördert das Erkennen. Genau das ist die Situation, in der sich der Künstler gegenüber der Wirklichkeit befindet, grübelnd erfaßt er das Außergewöhnliche, befragt das Vertraute, um es in die ihm eigene Ordnung zu bringen - oder diese Ordnung, weil ungeeignet, umzustoßen ..."

Erste Voraussetzung dafür ist immer das bewußte Wahrnehmen von Umwelt. Wo anders sollte das besser möglich sein als auf ausgedehnten Spaziergängen?

Foto: Michael Otto, "Grübeln im Park" (Öl auf Leinwand, 2004)


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