© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/07 06. April 2007

Jenseits des Elfenbeinturmes
Berlin: Wolfgang Thierse macht sich im Problemstadtteil Neukölln Gedanken über den Wertewandel / "Es geht nicht ohne kulturellen Kanon"
Fabian Schmidt-Ahmad

Die Bevölkerungsstruktur von morgen ist kein abstrakter statistischer Wert. "Sie ist anfaßbar - in jeder unserer Einrichtungen", sagt ein Mann, der es wissen muß: Heinz Buschkowsky (SPD), Bezirksbürgermeister des berühmt-berüchtigten Berliner Bezirks Neukölln. "Heute leben in Neukölln-Nord 50 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund. In unseren Schulen und Kindertagesstätten sind es 80 bis 100 Prozent." Jeder zweite junge Mensch unter 25 bekommt Hartz IV. Ungefähr 70 bis 75 Prozent der Schüler verlassen die Schule ohne Schulabschluß. Will die Gesellschaft politisch überleben, müsse sie sich neu orientieren, "wie sie ihre Werte umsetzt, durchsetzt, verteidigt und zum Durchbruch verhilft".

Den Versuch dazu unternahm in der vergangenen Woche der stellvertretende Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD), dem die einleitenden Worte des Bezirksbürgermeisters galten. Vor einem Neuköllner Publikum sprach Thierse, der Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD ist, über "Werte und Wertewandel".

Zunächst stellte Thierse, der es ablehnte, für die Neuköllner Problematik zuständig zu sein, die Frage in den Raum, wieso ein Politiker geeignet sein sollte, über Werte zu sprechen, und kam auf den "dramatischen Vertrauensverlust" der Bundesbürger in die Demokratie, ihre Institutionen und Akteure zu sprechen. Dennoch wolle er etwas zur "Werteerziehung" sagen und stellte in der Folge das Bildungskonzept vor, wie es in der Grundwertekommission der SPD entwickelt wird. Von "ganzheitlichem Lernen" war da die Rede, vom "Erwerb von Schlüsselqualifikationen". Sachte deutete Thierse eine normative Verbindlichkeit an: "Es geht nicht ohne kulturellen Kanon." Dies dürfe aber nicht dazu führen, daß fremde Kulturen ausgeschlossen werden: "Ausbildung von Identität ohne Abgrenzung und ohne Ausgrenzung". Somit müsse auch der Begriff der "Menschenwürde" ständig neu interpretiert werden.

Kritik an "selbstherrlicher Art" des Parlamentes

In der anschließenden Diskussion zeigte sich ein Anwohner verwundert darüber, daß Thierse anzweifelte, als Politiker über Werte sprechen zu können. Denn die wesentliche Aufgabe eine Politikers sei nicht die Bildungspolitik, sondern die Verabschiedung von Gesetzen. "Gesetze sind aber der sinnfällige Ausdruck bestimmter Werte in einer gegebenen Gesellschaft." Daher müsse ein Politiker praktisch von Berufs wegen diese Werte herausfinden, erkennen, welche Gesetze vom Volk gewünscht werden, und diese im Parlament umsetzen. Wenn dem ehemaligen Bundestagspräsidenten dies nicht bewußt sei, überkomme ihn "ein kalter Schauder". Man brauche sich dann nicht zu wundern, wenn ein Volk nicht an einem Parlament interessiert sei, das "in einer etwas selbstherrlichen Art" Gesetze beschließt, ohne daß es noch eine Verbindung gibt zwischen Politik einerseits, und dem, was in einer Gesellschaft gelebt wird.

Thierse bezweifelte, daß die Verabschiedung von Gesetzen sonderlich viel mit Werten zu tun habe. Ironisierend fügte er als Beispiel die Novellierung der Schornsteinfegerverordnung an. Den Vorwurf, das Parlament regiere am Willen des Volkes vorbei, wies er zurück: "Es gibt nicht 'den' Willen und 'das' Interesse des Volkes", sondern nur eine Vielzahl von "Interessen und Meinungen", die sich eben in den Parteien artikulierten.

Darauf erwiderte der Anwohner, daß die Frage, ob Tornado-Kampflugzeuge in Afghanistan eingesetzt werden sollen oder nicht, sehr wohl ein fundamentales Werturteil darstellt. "Und wenn das Parlament in dieser entscheidenden Frage am Volk vorbei regiert, knirscht es mächtig in der Demokratie." Auch spreche er bewußt von "dem Willen des Volkes", denn in einer Demokratie gebe es eine sehr simple Einrichtung, die den Willen feststellt: "Die Mehrheit entscheidet." Und dann gebe es in einer Sachfrage nur eine verbindliche Aussage. Thierse verteidigte diese konkrete Entscheidung mit Sachzwängen aus dem Nato-Bündnis.

Überhaupt fiel Thierse durch ein sehr eigenes Demokratieverständnis auf. Auf die Frage aus dem Publikum, ob das Parteienmonopol nicht die Demokratie gefährde, verteidigte er dieses. Thierse, der sich als Anhänger von direkter Bürgerbeteiligung bezeichnete, kritisierte die "runden Tische" der Wendezeit. (Thierse war selbst Teil der Bürgerrechtsbewegung in der DDR.) Derartiges sei nur in revolutionären Umbruchszeiten möglich. Diese "runden Tische" seien schlußendlich nicht demokratisch legitimiert gewesen. Wer dort säße, habe ganz einfach "das größte Maul gehabt". Den Beweis, wieso dann ausgerechnet in die Spitzenpositionen einer Partei der engagierte Bürger aufsteigt und nicht derjenige, der "das größte Maul gehabt" hat, blieb Thierse schuldig.

Von den Zuhörern scharf angegriffen wurde Thierse für seine Haltung, nicht für die Neuköllner Probleme zuständig zu sein. An diesem Punkt verwies Thierse - er sei für die Arbeitsteilung - stets an den Bezirksbürgermeister. Ein Anwohner wies dagegen auf die einleitenden Worte Buschkowskys hin und betonte, daß die Probleme, die man jetzt hier in Neukölln habe, stellvertretend für die Zukunft der gesamten Bundesrepublik stehen. Daher müsse auch die Entscheidung der Grundsatzkommission ganz konkret hier in Neukölln anwendbar sein. Wenn sie dies jedoch nicht leisten könne - und mehrfach wurde Thierse vom Forum auf die Realitätsferne seiner Darstellung hingewiesen -, sei sie "das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt ist". Thierse zweifelte an, daß Neukölln tatsächlich die Zukunft darstelle. Neukölln möge für vieles repräsentativ sein, er kenne aber viele Orte, die anderen Gesetzmäßigkeiten unterlägen.

In der Tat gibt es diese Orte. An einem ist Thierse Vorsitzender der Grundwertekommission, an einem anderen sogar Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Im Volksmund nennt man diese Orte - Elfenbeintürme.


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