© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/07 30. März 2007

Russophile Irrwege
von Martin Schmidt

Kurz nach seiner aufsehenerregenden Rede anläßlich der Münchner Sicherheitskonferenz (JF 9/07) erklärte Wladimir Putin am 13. Februar im jordanischen Amman, seine Kritik an den USA würde "in aller Welt ausgesprochen, doch in einigen Ländern macht man das grob, was kontraproduktiv und unzulässig ist, und in anderen Staaten flüstert man das nur hinter den Kulissen". Rußlands Präsident wußte die Wirkung seiner unverhohlenen Kritik an der westlichen Führungsmacht abzuschätzen. Ja, er setzte sie gezielt ein. Denn daß sich die Zahl seiner Gegner in Washington nach den Münchner Verbalattacken nochmals vermehrt haben dürfte, wird durch den Beifall in anderen Weltgegenden mehr als aufgewogen.

Das rhetorische Arsenal des starken Mannes aus Moskau hielt in der bayerischen Hauptstadt für jeden etwas bereit: Das Plädoyer für die strikte Einhaltung des Völkerrechts, das bedroht sei durch die (von Nordamerika aus betriebene) "Dominanz des Gewaltfaktors", spricht sehr viele Länder und Völker an, ebenso die Unterstützungserklärung für die Vereinten Nationen, die durch Nato und EU ersetzt zu werden drohten. Der Vorwurf an die US-geführte "Koalition der Willigen", allzu leicht zur Teilnahme an Militäroperationen entschlossen zu sein, "die sich kaum als legitim bezeichnen lassen und bei denen Tausende Unschuldige sterben", ist vor allem eine PR-Maßnahme für die muslimische Welt. Wladimir Putins Eintreten für eine "gerechte und demokratische Weltordnung (...) für alle" und ein "gerechteres System der Wirtschaftsbeziehungen" läßt die kommunistische Sozialisation erkennen und hat zweifellos viel Beifall in Entwicklungsländern und im linksliberalen Milieu westlicher Industrienationen gefunden. Seine abschließende Polemik gegen die OSZE ist vor allem der Tatsache geschuldet, daß diese neben dem Europaparlament wohl die einzige bedeutendere internationale Organisation ist, die unablässig auf die russischen Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien hinweist. Die sogenannte Weltöffentlichkeit ist in dieser Beziehung dagegen mittlerweile auffallend still geworden.

Auch und gerade im rechtskonservativen Spektrum findet das neue, tendenziell amerikafeindliche weltpolitische Klima Anklang. Man träumt von einer Achse Moskau-Berlin-Paris und in deren Folge von der Rück- gewinnung globaler Handlungsspielräume.

Die auf den weltgeschichtlichen Umbruch von 1989 folgende unmittelbare Nach-Wende-Zeit, da die Vereinigten Staaten durch ihr bloßes militärisch-wirtschaftliches Potential und ihr Prestige als letzte Supermacht Kritik sozusagen im Vorfeld verhindern konnten, ist endgültig vorbei. Das Debakel im Irak und die ausweglose Situation in Afghanistan veränderten die veröffentlichte Meinung rund um den Globus nachdrücklich. Selbst in West- und Mitteleuropa ist der Anti-Amerikanismus längst nicht mehr auf die radikale Linke oder die äußerste Rechte beschränkt, sondern strahlt weit in die Gesellschaft aus. Wer sich in der bundesdeutschen Medienlandschaft genauer umsieht, findet ihn überall, nur oberflächlich verdeckt von Lippenbekenntnissen zur westlichen Wertegemeinschaft und zur transatlantischen Solidarität.

Schimpfkanonaden gegen US-Präsident Bush ernten allgemeine Zustimmung, ganz gleich wie undifferenziert die Kritik ausfällt. Auch und gerade im rechtskonservativen Spektrum findet das neue, tendenziell amerikafeindliche weltpolitische Klima Anklang. Man träumt jenseits einer Außenpolitik der transatlantischen Westbindung von einer Achse Moskau-Berlin-Paris und in deren Folge von der Rückgewinnung globaler Handlungsspielräume. Frankreich steht in dieser Konstellation für ein neuerliches europäisches Selbstbewußtsein und wird ganz rational als Verbündeter definiert, während Rußland der eigentliche, gewissermaßen emotionale Wunschpartner ist.

Schließlich ist die Russophilie in der deutschen Politik tief verankert. Nachdrückliche Spuren hinterließ sie in Preußen und in der Weimarer Republik. In der Zwischenkriegszeit haben sich insbesondere etliche Vordenker der Konservativen Revolution für eine geistig-politische Ausrichtung auf (Sowjet-)Rußland eingesetzt. Heute verbinden sich solche Vorstellungen mit unterschwelligen Komplexen gegenüber der nach 1945 häufig selbstherrlich aufgetretenen Siegermacht USA, deren Repräsentanten nicht selten durch grenzenlose Naivität und einen erschreckenden Messianismus auffallen.

Doch wäre eine solche deutsche Außenpolitik klug? Würde sie den inneren Zustand, die äußeren Möglichkeiten und vor allem die tieferen Ziele einer den nationalen Interessen folgenden Politik der "Berliner Republik" angemessen berücksichtigen? - Vieles spricht dafür, diese Fragen zu verneinen! Vielmehr ist eine eklatante politische, militärische, soziokulturelle (Stichworte: Demographie und Multikultur), mentale sowie zunehmend auch ökonomische Schwäche dieses Staates zu erkennen, weshalb die äußeren Ambitionen tunlichst begrenzt werden sollten.

Statt dessen besteht die Notwendigkeit einer gezielten Selbstbeschränkung: Alle mobilisierbaren Kräfte sollten nach Osten und Südosten gelenkt werden, um die wirtschaftlich-kulturelle Wiedererschließung des östlichen Mitteleuropa voranzutreiben. Denn dieses ist die ureigenste, gleichsam natürliche Interessensphäre Deutschlands. Vor allem dorthin können wir noch ausstrahlen (beispielsweise sprachlich) und finden in den baltischen Völkern, den Ungarn, Slowaken, Rumänen und Bulgaren gute Partner. Auch mit Polen und Tschechien muß ein gedeihliches Auskommen gefunden werden, zumal uns diese Völker kulturell nahestehen und eine zukunftsgerichtete Pflege des ost- und sudetendeutschen Kulturerbes auf breiterer Grundlage gegen sie nicht möglich ist.

Doch fast alle ostmitteleuropäischen Länder sind rußlandkritisch oder gar rußlandfeindlich eingestellt. Sie haben dafür gute Gründe, wissen sie doch um die fortbestehende Gefährdung ihrer eigenen Souveränität durch den einstigen "Großen Bruder". Am deutlichsten bekommen die Esten, Letten und Litauer die russischen Machtansprüche zu spüren, vor allem über das Drehen am Energiehahn, über von außen aufgezwungene geschichtspolitische Debatten und über die regelmäßigen Moskauer Versuche, die im Baltikum verbliebenen russischen Bevölkerungsgruppen für eigene Zwecke zu instrumentalisieren.

Als das estnische Parlament am 15. Februar versuchte, durch ein gesetzliches Verbot der "Verherrlichung der sowjetischen Besatzungszeit" ein russisches Siegesdenkmal im Herzen der Hauptstadt Reval (Tallinn) zu entfernen, war das ein legitimes Begehren. Man will sich endgültig von der wahrheitswidrigen These distanzieren, die Besetzung durch die Rote Armee von 1940 bzw. 1944/45 sei eine "Befreiung" gewesen. Denn wie kann es sich um eine "Befreiung" handeln, wenn man das Ausmaß der sowjetischen Massenverbrechen im Baltikum vergegenwärtigt, sich an die existenzgefährdenden Russifizierungsversuche durch staatlich gelenkte Masseneinwanderung erinnert oder wenn man um die ausbeuterische und ökologisch katastrophale sowjetkommunistische Wirtschaftspolitik gerade in dieser Region weiß? Estlands Präsident Toomas Hendrik Ilves, der den erwähnten Gesetzesbeschluß durch sein Veto einstweilen blockierte, wies zuletzt Mitte Februar in einem Interview gegenüber der Deutschen Welle auf die jahrzehntelange Leidensgeschichte seines Volkes hin: "56 Prozent der Esten haben einen Verwandten, der erschossen wurde, ins Exil mußte oder nach Sibirien deportiert wurde." Und er nannte es bezeichnend für die autoritären Tendenzen in Rußland, daß der dortige Geheimdienst bis heute die Gründung seines berüchtigten bolschewistischen Vorgängers Tscheka feiere.

Wenn die russischen Medien nach dem Revaler Denkmalsbeschluß eine wütende Kampagne starteten und Außenminister Lawrow von einer "frevlerischen Handlung" sprach, so ist dies nur ein weiterer Beleg für die einseitige Geschichtsinterpretation im Putinschen Rußland. Wie Hohn mutet es an, wenn manche (auch deutsche) Presseorgane Rußland mittlerweile zum internationalen Stabilitätsfaktor hochstilisieren, während der amerikanische "Weltpolizist" immer neue Konflikte schüre.

Alarmierend feindselig fiel auch die Reaktion des Kreml auf die von Polen und Tschechien unterstützten Pläne der Vereinigten Staaten aus, auf ihrem Territorium Radaranlagen für ein weltraumgestütztes US-Raketenabwehrsystem zu stationieren. Zweifellos ist dieses Vorhaben aus Moskauer Sicht als indirekte Bedrohung zu werten und zielt in erster Linie auf das wiedererstarkende Großmachtgebaren Rußlands. Doch der im Falle eines neuerlichen Rüstungswettlaufs mit den USA chancenlose Kreml sollte endlich anerkennen, daß seine Einflußsphären nicht mehr bis an die Weichsel, die Moldau und die Donau reichen, und sich langfristig um eine gute Zusammenarbeit mit allen EU-Mitgliedsländern bemühen. Statt dessen drohte der Befehlshaber der russischen Raketenstreitkräfte, Nikolaj Solowzow, am 19. Februar damit, Raketen auf beide Länder zu richten, "falls die Regierungen von Polen und Tschechien eine solche Entscheidung treffen".

Die Milliardeneinnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft täuschen viele politische Beobachter und weite Teile der deutschen Öffentlichkeit über die reale Schwäche des Putinschen Riesenreiches hinweg. Dessen Stern wird aber schon mittelfristig wieder sinken, wenn der katastrophale demographische Niedergang das Land zu lähmen beginnt und die soziale Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen dem boomenden Moskau und der verelendenden Provinz zur Zerreißprobe wird. Der Literaturnobelpreisträger und Putin-Kritiker Alexander Solschenizyn warnte in einer am 27. Februar veröffentlichten Denkschrift für die Zeitung Rossiskaja Gazeta bereits vor deutlichen Parallelen zwischen der revolutionären Situation Rußlands vor der Machtübernahme durch die Bolschewiki 1917 und der heutigen Lage.

Die Regierungen in Warschau und Prag wollen jedenfalls nicht in eine ähnliche Lage wie Ungarn geraten, das durch seine extrem hohe Abhängigkeit von russischen Energielieferungen seine Handlungsfreiheit gegenüber dem Kreml verloren hat (laut Außenministerin Kinga Göncz werden 80 Prozent des nationalen Energiebedarfs aus Rußland gedeckt). Vor diesem Hintergrund kommt es zu höchst umstrittenen Entscheidungen wie dem jüngst erfolgten Verkauf der ungarischen Fluggesellschaft Malév an den durch die staatliche Fluglinie Aeroflot unterstützten russischen Anbieter Krassair.

Deutschlands Platz im Streit zwischen ostmitteleuropäischen Staaten und Rußland sollte - bei aller diplomatisch gebotenen Zurückhaltung - in aller Regel an der Seite der ostmitteleuropäischen Völker sein. In der Vergangenheit war das nicht der Fall, weshalb es verständlich ist, wenn sich Esten, Letten, Polen oder Tschechen an ihren vermeintlich einzigen zuverlässigen Fürsprecher und Beschützer wandten: die USA. Unsinnige Spaltungsversuche wie die amerikanische Zweiteilung in ein "neues" und ein "altes" Europa waren die Folge.

Eine geschickte deutsche Ostpolitik könnte erheblich dazu beitragen, daß sich solche fatalen Entwicklungen nicht wiederholen. Sie hätte die Aufgabe, die Integration der ostmitteleuropäischen Länder sowie Rumäniens und Bulgariens in die Europäische Union zu vollenden - und zwar ohne zentralistische Zumutungen aus Brüssel. Außerdem gilt es, die EU behutsam um die noch verbliebenen echten Beitrittskandidaten wie Kroatien oder eventuell auch Mazedonien und Serbien zu erweitern und der europäischen Staatengemeinschaft auf der Ebene der Außenpolitik weltweit Respekt zu verschaffen. Russische Begehrlichkeiten sind dabei ebenso abzuwehren wie unangemessene US-amerikanische Einmischungsversuche und raumfremde ideologische Vorgaben.

Vordringlichste Aufgabenfelder einer gesamteuropäischen Zukunftspolitik sind der Balkan als klassisches "Pulverfaß" des Kontinents, die Ukraine und der Kaukasus. Deutschland hat dort überall starke Eigeninteressen, zumal die Mazedonier, Albaner, Ukrainer oder Georgier und Aseris (Aserbaidschaner) besonders deutschfreundlich sind und insbesondere der Kaukasus wichtige energiepolitische Alternativen eröffnet. Darüber hinaus sollte die "Berliner Republik" angesichts der neuen multipolaren Weltordnung langfristige Strategien zur Festigung der historisch guten oder zumindest unproblematischen Beziehungen zu den Zukunftsmächten Indien und China formulieren sowie die Beziehungen zu Regionalmächten wie Japan, Südkorea und Kasachstan weiter ausbauen.

Alle mobilisierbaren Kräfte sollten nach Osten und Südosten gelenkt werden, um die wirtschaftlich-kulturelle Wiedererschließung des östlichen Mitteleuropa voranzutreiben. Denn dieses ist die ureigenste, gleichsam natürliche Interessensphäre Deutschlands.

Was die großen weltpolitischen Konflikte mit dem Iran, mit Nordkorea und dem expansionistischen Islamismus angeht, ist Deutschland Zurückhaltung anzuraten. Weitere perspektivlose Auslandseinsätze für die Bundeswehr, etwa in Gestalt der Entsendung von Kampftruppen in den Süden Afghanistans, müssen vermieden werden. Allerdings sollten jene Kräfte, die immer wieder eine "diplomatische" westliche Iran-Politik einfordern (gemäß der Kreml-Losung "Atomenergie ja, Atombombe nein"), endlich überzeugende Belege für ihre These vorlegen, wonach ein Abrücken Teherans vom Atomwaffenbau auch ohne massiven militärischen Druck möglich ist.

Denn eines sollte klar sein: Es kann nicht in unserem Interesse liegen, daß künftig auch Staaten wie der Iran zu Atommächten werden. Es ist fatal genug, daß in bezug auf Pakistan und Nordkorea nicht rechtzeitig gehandelt wurde und sich mit Blick auf künftige Waffentechniken - etwa der Vision von "Atombomben im Westentaschenformat" - höchst bedrohliche Szenarien abzeichnen. Daß die Amerikaner auf diese Entwicklungen unter anderem mit einer Intensivierung ihrer Arbeiten an einem Raketenabwehrschild reagieren, ist nachvollziehbar, und es wäre gut, wenn Deutschland in diesen Schutz einbezogen würde.

Im Vergleich zu anderen außenpolitischen Optionen erscheint die tendenzielle Anbindung an die Hegemonialmacht USA trotz aller Kritik am politischen Stil des Weißen Hauses, an seinem grenzenlosen Sendungsbewußtsein, am kulturellen Amerikanismus sowie am ausufernden Kapitalismus noch immer als die bessere Lösung. Zumindest entspricht sie den deutschen Interessen mehr als eine "Achse Paris-Berlin-Moskau".

 

Martin Schmidt war von 1993 bis 1994 stellvertretender Chefredakteur der JUNGEN FREIHEIT und zuständig für die außenpolitische Berichterstattung. Er lebt heute als Publizist in der Nähe von Karlsruhe.


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