© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/07 30. März 2007

Pankraz,
das Paßwort und der Nibelungendrache

Stolperstein in der Einkaufszone. Pankraz wollte sich am Bank-Automaten etwas Geld ziehen, hatte den entsprechenden "Skrientatsch" ausgeführt und wartete nun auf die Aufforderung, seine Geheimnummer einzugeben. Doch das Gerät wollte die Geheimnummer gar nicht mehr, es wollte die "Pin". "Bitte, geben Sie Ihre Pin ein", wiederholte es eindringlich. Was war denn das, Pin? Hatte es etwas mit Pin-up-Girl zu tun? Sollte man etwa ein Pin-up-Girl in den Automatenschlitz schieben?

Aber nein, Pin war, wie sich Pankraz belehren lassen mußte, die Abkürzung von "Pörsenell Eidentifikeejschn Namber". Die Bank hatte ihre Umgangsformen wieder einmal stillschweigend modernisiert und rationalisiert. Statt Geheimnummer Pin. Eine einzige Silbe statt deren vier, und diese eine sogar noch besonders stromlinienförmig und der Globalisierung angepaßt. Kein Grund zum Sichaufregen.

Derartige kleine Überraschungen gehören ja ohnehin längst zum Alltag. Pins, Kennziffern, Paßwörter, Jusernehms, Codes, Versicherungsnummern, Kundennummern, Rechnungsnummern, Kreditkartenummern - alle muß man kennen und sich merken, und bei allen muß man darauf gefaßt sein, daß sie sich über Nacht ändern, rationalisieren, digitalisieren, globalisieren. Die sogenannte Hardware ändert sich noch schneller als die Software, und die Apdeets treten sich gegenseitig auf die Füße.

Vor einigen Tagen kam im Fernsehen das Spiel über einen Mann, der bei einem Unfall sein Gedächtnis verliert, d. h. sich nicht mehr an seinen Namen und an seine Adresse erinnern kann. Die Ärzte und Schwestern in dem Stück machten schreckliches Aufsehen von dem Fall, organisierten raffinierte Befragungsmuster, um dem bedauernswerten Opfer auf die Sprünge zu helfen - vergeblich. Verwundert registrierte Pankraz, daß niemand auf den Gedanken kam, einmal nach der Pin zu fragen oder wenigstens nach der Handy-Nummer. Solche Angaben sind heutzutage doch viel wichtiger als Eigenname und Wohnadresse, werden viel tiefer einverseelt.

Nicht einmal die Jacken- und Hosentaschen des Patienten wurden ordentlich durchsucht, auch von ihm selbst nicht. Man fand keinen Personalausweis darin und ließ es damit bewenden. Niemand forschte nach kleinen Zetteln oder Schnipseln, auf denen eventuell neu eingeführte Kennziffern oder Paßwörter notiert worden waren, um sie auswendig zu lernen. Dabei sind solche temporären Spickzettel mittlerweile sehr populär, denn all die Nummern und Wörter sind eben "Geheimnummern", "Geheimwörter", man trägt sie vorsichtshalber nicht in seinem Notizbuch mit sich herum.

Armer vergeßlicher Krankenhauspatient! Oder sollte man vielleicht besser sagen: Glücklicher vergeßlicher Krankenhauspatient? Er kriegt nun zunächst eine Reihe von Nummern verpaßt, Patientennummer, Zimmernummer, PC-Nummer usw., und es sind durch die Bank funkelnagelneue, voll digitalisierte und ungemein funktionelle Nummern. Soll man überhaupt wünschen, daß er je wieder zu seinem "richtigen" Namen und zu seiner "richtigen" Nummer, nämlich der Hausnummer, zurückfindet? Er geriete unter Umständen in Bezugsnetze, die inzwischen vollkommen überholt sind.

Es läßt sich kaum übersehen: Ein Leben als bloße Kennziffer unter anderen Kennziffern brächte durchaus Vorteile, vor allem für die Verwaltung. Beziehungen würden abkühlen und ließen sich schwer wieder auf gefährliche Siedehitze hochtreiben. Die Kommunikation insgesamt würde sachlicher. Auch das allerorten so hochgeschätzte Prinzip der Gleichheit würde ungemein gefördert. Zahlen sind zwar verschieden groß, aber untereinander gleich. Sie repräsentieren lediglich Quantität, nach der Sache selbst wird nicht gefragt, sie interessiert gar nicht mehr.

Konsequente Verzifferung des Lebens würde letztlich auch das eifrige Operieren mit Geheimnummern, ja, den ganzen ehrgeizigen Datenschutz überflüssig machen. Wenn alle gleich sind, interessiert bald niemanden mehr, was der einzelne treibt. Die Ersetzung des Wortes "Geheimnummer" durch das Wort "Pin" gewinnt unter diesem Betracht geradezu symbolische Bedeutung. Sie markiert nichts weniger als das Ende der Geheimnisse. Denn die Pin meint kein wirkliches Geheimnis, sondern einzig unerlaubten Zugriff aufs Bankkonto. Sie ist kein Girl, sie ist ein Drache, jener alte Nibelungendrache nämlich, der von keinem Siegfried je totzukriegen ist.

Doch zurück zu den praktischen Fragen des Lebens! Noch gibt es ja jede Menge geheime Kennziffern und Paßwörter, die man sich merken muß, und nicht jeder kann sich, wie der Krankenhauspatient im Fernsehen, bei Gedächtnisverlust auf einen Unfall berufen. Auch gibt sich noch längst nicht jede Instanz so kulant und avantgardistisch wie Yahoo oder YouTube, die bekanntlich - wenn man sein Paßwort vergessen hat - sofort eine Spalte anbieten, in die man ein beliebiges neues eintragen kann. Man sollte stets auf das Schlimmste gefaßt sein.

Geheimnis hin oder her, Pankraz rät dazu, die Strecke der lebens- oder alltagswichtigen Zahlen- und Wortfolgen getrost ganz offen in sein Notizbuch einzutragen, und zwar am liebsten doppelt und dreifach, also in mehrere Kladden gleichzeitig, und diese Kladden so in der Wohnung und im Büro und in den Taschen zu verteilen, daß man jederzeit schnellen Zugriff hat. Sekretärinnen und Ehefrauen sollten ermahnt werden, ein gleiches zu tun.

Und was die elektronische Datenspeicherung betrifft, so sollte man auch hier nie auf einen einzigen Speicher setzen, denn der kann abstürzen und alle Daten mit in die Tiefe reißen. Diversifizierung, Sicherung und schneller Zugriff sind das Gebot, auch hier. Lieber als Pedant und Hypochonder erscheinen, als in die doch sehr bekümmerliche Rolle jenes aller Orientierung beraubten Krankenhauspatienten zu geraten. Wie der Ochs vorm neuen Tor möchte niemand dastehen und noch weniger wie das von seiner Mutter verlassene Kalb vorm alten Tor.


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