© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/07 16. März 2007

Die Lausitz im Visier von vier Völkern
Pläne über die politische und staatliche Zukunft der Lausitz nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches
Adolf Fiedler

Sicherlich war vor dem Hintergrund schlechter Erfahrungen vieler Sorben mit dem Hitler-Regime Bereitschaft und Wunsch mancher slawischer Bewohner der Lausitz vorhanden, auf Distanz zu Deutschland zu gehen. Gedanken dieser Art bemächtigten sich vor allem der politischen Führung dieser Volksgruppe. Die Abkehr vom Deutschen meinten diese Leute in erster Linie auf zwei Wegen realisieren zu können: Vereinigung mit einem der beiden slawischen Nachbarstaaten - Favorit war hier die Tschechoslowakei - oder aber durch Autonomie, die bis zur Eigenstaatlichkeit gehen konnte. Aus der Sicht Polens wie auch der Tschechoslowakei bedeutete dieser Wunsch der Sorben (oder Wenden) eine Schwächung Deutschlands und wurde deshalb auf jeden Fall begrüßt. Die Lausitz wurde von beiden Völkern, Polen wie Tschechen, bereits früher als slawische Brücke im deutschen Raum empfunden. Was geschah eigentlich 1945 bei den Slawisch sprechenden Lausitzern?

Blickt man auf Publikationen der Domowina aus der Nachkriegszeit zurück, so fällt ein Kommentar des bekannten Slawisten Max Vesmer auf, in dem dieser in zwei Sätzen eine Begründung des 1945 aufgekommenen Separatismus anführt: "Es ist wahr, daß das wendische Volk höchst rücksichtslos von den Nationalsozialisten behandelt worden ist und daß heute noch die Verbitterung darüber sehr groß ist, so daß die wenigsten Wenden daher heute an die Aufrichtigkeit einer Demokratisierung Deutschlands glauben und so wegstreben von uns, hin zu Polen oder der CSR."

Die Hinwendung der Sorben nach Prag bzw. dessen Interesse an einem Anschluß der Lausitz an die tschechoslowakische Republik hat Tradition. Bereits 1918/19 gab es Stimmen, die von der Einverleibung dieses Territoriums in einen tschechoslowakischen Staat sprachen, allerdings soweit es sich um offizielle Vertreter handelte, redeten sie immer im Konjunktiv oder unter Vorbehalt, so etwa der tschechische Staatsgründer Thomas G. Masaryk in seinem Buch "New Europe" (New York, 1918): "Die Lausitzer, sollten sie es so wünschen, könnten Böhmen angeschlossen werden." Und die tschechoslowakischen Vertreter auf der Pariser Konferenz sagten vorsichtig, den Anschluß der Sorben "an die tschechoslowakische Republik zu verlangen, bedeutet vielleicht, ein schwer zu lösendes Problem aufzuwerfen". Gemeint sind die dann längeren Grenzen der Tschechoslowakei, die bis südlich von Berlin reichen würden und für eine militärische Verteidigung noch ungünstiger wären, als sie es ohnehin bereits sind. Allerdings sprach man gegenüber den Alliierten auch von einer Autonomie der Sorben, wobei aber offenblieb, ob unter dem Deutschen Reich oder der Tschechoslowakei.

Wunschdenken einer politischen Führungskaste

Konkreter und zielgerichteter äußerte sich da schon der Prager Sorbenfreund und Nationalist Adolf Černý in seinem Buch "Lucickä etäska" (Die Lausitzer Frage, Prag 1918): "Ich kann mich entschieden für einen direkten Anschluß der Lausitzer Sorben an den tschechoslowakischen Staat aussprechen." Und während der Zeit der Weimarer Republik spielte sich Prag immer dann, wenn es meinte, den Sorben gehe es in Deutschland schlecht, als Schutzmacht der sorbischen Lausitzer auf, getreu der Devise Thomas G. Masaryks: "Der Weltkrieg hat alle Slawen befreit und geeint, ausgenommen die Lausitzer Sorben."

An ebendiese Tradition knüpften die Führer der Sorben/Wenden in der Lausitz nach dem 8. Mai 1945 an. Bereits am 9. Mai wurde in Prag der Wendische Nationalausschuß unter Führung und Regie tschechischer Politiker gegründet. Dieses Gremium forderte auch den sofortigen Anschluß der Lausitz an die Tschechoslowakei. Die Prager Regierung gewährte ihrerseits sofort materielle und ideelle Hilfe: Gründung zweier sorbischer Gymnasien in Böhmisch Leipa und Warnsdorf, Übergabe einer von Deutschen enteigneten Druckerei in Rumburg, Unterstützung beim Druck von Schriften auf sorbisch, Einrichtung sorbischer Rundfunksendungen.

Am 10. Mai wurde dann in Cretwitz die Domowina wiedergegründet. Diese Vereinigung begnügte sich zunächst mit gemäßigten Forderungen wie etwa nach Gewährung einer territorialen Autonomie auf deutschem Boden. 1945 lebten etwa 100.000 Sorben oder Wenden in der Lausitz. Im Durchschnitt machten Sorben in allen Kreisen etwa 15 Prozent der Gesamtbevölkerung aus; doch fiel ihr Anteil regional unterschiedlich aus: von Cottbus (Land) mit etwa vierzig Prozent bis hinab zu fünf Prozent in mehreren Kreisen der Oberlausitz.

Für den unbeteiligten Betrachter muß jedoch seltsam erscheinen, daß angesichts der mehrheitlichen deutschen Bevölkerung dieser Region Forderungen nach Loslösung von Deutschland bei den slawischsprachigen Bewohnern aufkamen, die von der Errichtung einer Autonomie bis zur Eigenstaatlichkeit oder sogar dem Anschluß an die Tschechoslowakei reichten. Hier wirkten sich eben die Repressalien aus, die Sorben unter dem nationalsozialistischen Regime erfahren mußten, und die separatistischen Traditionen der Zeit nach 1918 wie auch der propagandistische Einfluß vor allem Prags, in geringerem Maße Warschaus. Bei Lektüre der vorhandenen Quellen verstärkt sich der Eindruck, daß diese Bestrebungen eine Art Wunschdenken einer politischen Führungskaste und einer dünnen intellektuellen Oberschicht war. Typisch für diese Annahme ist das Ergebnis einer Umfrage im Kirchspiel Lehsa: Zweitausend sorbischsprachige Bewohner befürworteten den Verbleib bei Deutschland, 45 den Anschluß an die Tschechoslowakei. Ähnlich sollen die Ergebnisse auch an anderen Orten ausgefallen sein, wo die Bevölkerung befragt worden ist.

Bereits im September 1945 schlossen sich Domowina und Wendischer Nationalausschuß zum Sorbischen Nationalrat zusammen, einer Art Dachverband, der als Exekutivorgan gedacht war. Die Aktivitäten beider Organisationen und ab 1946 ihres Dachverbandes waren sehr intensiv. Bereits am 15. September 1945 war in der Zeitschrift Nase dzelo (Unser Werk) ein Artikel erschienen mit einem Dankeswort an Generalissimo Stalin und die "siegreiche Rote Armee", die das sorbische Volk der Lausitz vom Faschismus befreit habe, und es wird der "sehnliche Wunsch" geäußert, von der Herrschaft der Deutschen befreit zu werden und als freies Volk mit anderen slawischen Brüdervölkern zusammenzuleben: "Weil wir aber nach so langer Unterdrückung allein zu schwach sind, wollen wir unter dem Schutz unserer slawischen Brüder leben. Wir wollen frei im Rahmen eines tschechoslowakischen Staates leben."

Am 24. November 1945 erschien im Londoner Everybody's Weekly unter dem Titel "The forgotten Nation" ein Beitrag von H. G. Taussing - vermutlich ein tschechischer Autor -, in dem er als Begründung für die Tendenz der Sorben in Richtung Prag anführt: "Die Lausitzer Sorben sagen, daß sie nur vorübergehend zu Sachsen gekommen seien und daß es da viele Umstände gebe, die sie berechtigten, zu den tschechischen Ländern zurückzukehren. Sie verlangen, daß sie den Tschechen zurückgegeben werden, nachdem die Könige von Sachsen 1918 auf den Thron verzichtet haben." Sowohl in der Dankesadresse an Stalin als auch in dem Artikel der Londoner Zeitschrift wird für die Errichtung eines autonomen sorbischen Staates unter tschechischer Schutzherrschaft plädiert. In den Ausführungen Taussings vom 24. November 1945 wird die Loslösung vom deutschen Staat historisch mit der Personalunion begründet, die einmal zwischen der Lausitz und Böhmen bestanden hat, was allerdings geschichtliche Sachverhalte eindeutig im Interesse nationalistischer Ziele verkürzt.

Hauptexponent des sorbischen Separatismus war der Pfarrer Jan Cyz, der bereits am 5. Mai die Bitte an Edward Beneš formuliert hatte, sich bei den "siegreichen Alliierten" für die Belange des sorbischen Volkes einzusetzen. Und am 12. Mai richtete der sorbische Nationalausschuß in Prag ein Memorandum an Stalin und Beneš mit der Forderung nach Befreiung des (sorbischen) Volkes in Form eigener Staatlichkeit unter dem Schutz der Tschechoslowakei, zu der die Sorben enge historische und kulturelle Bindungen hätten.

Ende Mai 1945 richtete der Ausschuß einen zweiten Sitz in Bautzen ein, so daß er jetzt seine Ziele konzentrierter aus der Lausitz heraus verfolgen konnte. So forderte denn auch der Ausschuß in einer Denkschrift an die Alliierten auf der Potsdamer Konferenz, die die Vertreter der CSR überreichen sollten, die "Errichtung einer autonomen Region der sorbischen Lausitz innerhalb des tschechoslowakischen Staates". Das Schriftstück war in tschechischer und russischer Sprache abgefaßt, am 11. Juni folgte eine englische Fassung. Am 12. August 1945 hielt die Domowina, die sich inzwischen dem Nationalausschuß programmatisch genähert hatte, im Volkstheater in Bautzen eine Kundgebung ab, auf der der Vorsitzende Pavel Neda unter tosendem Beifall der Anwesenden und im Beisein sowjetischer Offiziere (wohl Beobachter der SMAD) erklärte, die "Sehnsucht des sorbischen Volkes nach einer Vereinigung mit der Tschechoslowakei" sei groß. Und Prag tat alles, um diese Sehnsucht zu unterstützen. So fand kurz darauf ein Treffen sorbischer Politiker unter Regie der tschechoslowakischen Regierung in Prag statt, auf dem die "Freiheit der Lausitz" und die "Vereinigung mit der CSR" gefordert wurden. Die Resolution war unterschrieben von Pfarrer Jan Cyz, Pfarrer B. Selta, dem Juristen Jan Cyz und dem Lehrer Jan Meskank.

Am 6. Juni war die Gesellschaft der Freunde der Lausitz wiedergegründet worden, die sofort mit Flugblättern und Plakaten hervortrat, auf denen sie den Anschluß an die Tschechoslowakei forderte. Sie sprach von einer halben Million, die auf diesen Moment warteten (etwa 100.000 waren es tatsächlich). Am 29. Juni wurde von ihr die größte Kundgebung nach dem Kriege in Prag organisiert, auf der vom Juristen Jan Cyz die Parole ausgegeben wurde: "Land zu Land, Blut zu Blut, Bruder zu Bruder, die Lausitz zur Tschechoslowakei." Im August 1945 wurde Cernys Buch "Die Lausitzer Frage" neu aufgelegt, ergänzt um ein Kapitel, das die Ereignisse nach dem 8. Mai festhielt. Nach der Gründung des Sorbischen Nationalrats, der nunmehr die politischen Interessen der Lausitzer Sorben wahrnahm, beschränkte sich die Gesellschaft der Freunde der Lausitz fortan auf kulturelle und soziale Aufgaben. So trat dieser Nationalrat bereits in den ersten Monaten seines Bestehens mit Forderungen an die Öffentlichkeit wie: Aufnahme der Sorben in die Uno, sorbische Vertreter bei den Friedenskonferenzen, eine von den Alliierten garantierte Autonomie mit eigener Regierung: 1947 verlangte der Rat erneut in einem Memorandum an die Moskauer und dann Pariser Außenministerkonferenz die Gründung eines autonomen Sorbenstaates unter dem Schutz eines oder zweier slawischer Staaten.

Bereits im Frühjahr 1945 hatten sich führende Vertreter der tschechischen Regierung in diesem Sinne geäußert, so der Informationsminister Vaclav Kopecky, der Bildungsminister Zdenek Negedly und der Staatssekretär im Außenministerium Vladimir Clementis. Ab Juli 1945 suchte Prag auch bei den Sowjets offiziell vorstellig zu werden und forderte eine eigene Besatzungszone in der Lausitz; Prag begründete dies mit dem Hinweis, daß die Sorben "sehnlichst" eine tschechische Besatzung wünschten, und der Verteidigungsminister Ludvik Svoboda sprach in diesem Sinne bei Marschall Schukow vor. Die Tschechen beachteten hierbei jedoch weder den Autonomievorbehalt der Sorben noch die Tatsache, daß Stalin auf der Potsdamer Konferenz die Sorbenfrage mit keinem Wort erwähnt hatte und auch die westlichen Vertreter nie davon sprachen; das Problem der Lausitz wurde einfach nicht auf die offizielle Tagesordnung gesetzt. Die Memoranden blieben unerwähnt.

Moskau hatte kein Interesse an sorbischer Unabhängigkeit

Die Sowjetunion hatte inzwischen erkannt, daß sie in der 1946 gegründeten SED einen willfährigen Helfer gefunden hatte, und so begannen die deutschen Kommunisten mit Billigung des sowjetischen Geheimdienstes SMAD ab 1947/1948 den Einfluß des Nationalausschusses mehr und mehr zurückzudrängen, schließlich wurde der Wendische Nationalrat völlig verboten - seine Mitglieder waren bürgerlich christlich, national eingestellt - und die Domowina mit der Pflege von Sprache, Kultur und Brauchtum beauftragt.

In Prag führte der Wendische Nationalausschuß noch bis zur Machtübernahme durch die Kommunisten im Frühjahr 1948 ein Schattendasein, dann war auch hier sein Ende gekommen. Die Domowina wurde ab 1947, verstärkt dann 1948 von SED-Anhängern durchsetzt und diente fortan als eine Art Transmissionsriemen der SED unter der sorbischen Bevölkerung der Lausitz. Allerdings kam das SED-Regime den Sorben auf kulturellem, sprachlichem und sozialem Gebiet weit entgegen: Zweisprachigkeit im öffentlichen Leben, eigene Schulen (zwei Gymnasien bzw. Erweiterte Oberschule), eigene Lehrerausbildung, Zeitungen, Druckereien, eigenes Theater. Diese Rechte fanden 1948 in Sachsen Niederschlag im "Gesetz zur Wahrung der Rechte der sorbischen Bevölkerung", das als Verordnung von der Regierung in Brandenburg übernommen wurde. Aufgenommen wurden diese Rechte dann auch in die Verfassungen der DDR von 1949, 1968 und 1974.

Der propagandistische Aufwand, den die Polen in der Frage der Sorben betrieben, war wesentlich größer und intensiver als der der Tschechen, allerdings forderten sie nie die Eingliederung der Lausitz in den polnischen Staat. Man verlangte lediglich - ähnlich den Tschechen - ein Besatzungsrecht in der Lausitz. Ein Grund für diese Zurückhaltung dürfte wohl in dem unsicheren Besitz der deutschen Ostprovinzen zu suchen sein, hatte ihnen doch die Potsdamer Konferenz diese Gebiete zunächst nur zur Verwaltung übertragen, zwar mit Billigung der Vertreibung der deutschen Bevölkerung, aber mit dem Vorbehalt einer endgültigen völkerrechtlichen Festlegung erst auf einer künftigen Friedenskonferenz.

Ansonsten verlief die Entwicklung, was die Gründung sorbenfreundlicher Organisationen betraf, ähnlich wie in der Tschechoslowakei. Innerhalb des Polski Związek Zachodni gründete sich die Gesellschaft der Freunde der Lausitz mit ähnlichen Zielen und Aktivitäten wie bei den Tschechen. Im PZZ wurde am 30. August 1945 ein Referat für die Lausitz gebildet, dessen Leitung ein Sorbe übernahm. Dieses Referat drängte das polnische Außenministerium, auf der Potsdamer Konferenz mit der Forderung vorstellig zu werden, den Sorben Unabhängigkeit von Deutschland zu verschaffen. Dies geschah dann auch, allerdings mit genausowenig Erfolg wie ihre tschechischen Kollegen. Davon abgesehen bildeten sich in einigen polnischen Städten Gesellschaften der Freunde der Lausitz, die eifrig die Unabhängigkeit der Lausitzer Sorben von Deutschland und die "brüderliche sorbisch-polnische Koexistenz" propagierten. Am 12. September 1945 wurde der Slowakistikverband Poluz gegründet, der die Parole ausgab: "Nad Luzy cami polska straz" (Polnische Wacht über die Lausitz). In Posen gründete man einen Sorbischen Wissenschaftsrat, der auch bald (1946) einen Slowakistikkongreß veranstaltete. Die Koordination all dieser Aktivitäten war einem Sorben namens Pavel Cyz, dem Bruder des in Prag wirkenden Juristen Jan Cyz, übertragen worden. Im polnischen Teil von Görlitz durften sorbische Kinder Schulen besuchen, und Studenten erhielten ähnlich wie in der Tschechoslowakei erleichterten Zugang zu Hochschulen und Universitäten. 1947 zog sich Warschau allerdings aus allen Aktivitäten zugunsten der Sorben zurück und löste alle prosorbischen Vereinigungen auf - auch Proluz. Dies dürfte wohl auf einen entsprechenden Wink aus Moskau zurückzuführen sein und entspricht der Entwicklung in der SBZ.

Fotos: Sorbische Osterreiter in Bautzen: Begehrlichkeiten eines Schutzmachtstatus über die "slawischen Brüder" aus Prag und Warschau, Gefallenendenkmal bei Bautzen: Für Deutschland


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