© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/07 16. März 2007

Konservatismus nach seiner Radikaldiät
Die Geburt der Bundesrepublik aus dem Geist der Münsteraner Joachim-Ritter-Schule
Gerd Schmidt

Die Lektüre der Berliner Doktorarbeit von Jens Hacke ist eine Quälerei ohnegleichen. Lieber bei Wasser und Brot drei Tage in einem dunklen Loch, als noch einmal genauso lange Lebenszeit für Hackes "Philosophie der Bürgerlichkeit" herzugeben.

Dabei kann man dem Verfasser gewiß nicht vorsätzliches und schon gar nicht schuldhaftes Verhalten anlasten. Vielleicht ist an ihm kein Stilist verlorengegangen, aber er gibt sich wirklich alle Mühe, den Stoff mundgerecht untergliedert darzureichen, und ein Mangel an gedanklicher Durchdringung ist nirgends erkennbar. Es liegt vielmehr am Gegenstand, der offenkundig so unsagbar schwer zu vermitteln ist wie Hegels "Logik" oder Einsteins Relativitätstheorie.

Worum geht es also? Um die "Schule von Münster". Genauer um die Joachim Ritters, eines Philosophiehistorikers, der dort seit 1946 als akademischer Lehrer einen ideologisch recht heterogenen Schülerkreis anzog. Ritter, der nicht viel publizierte, ist heute nahezu vergessen und lebt allenfalls als Begründer des monumentalen "Historischen Wörterbuchs der Philosophie" im Gedächtnis der Fachkollegen fort. Auch sein 100. Geburtstag vor vier Jahren (JF 15/03) hat ungeachtet der Verheißung Ulrich Raulffs ("Hundert verweht: Joachim Ritter kehrt zurück", Süddeutsche Zeitung vom 3. April 2003) ihn dieser Vergessenheit nicht entreissen können.

Allerdings gehörte er dank seiner Schüler, allen voran Hermann Lübbe und Odo Marquard, zu den großen abwesend Anwesenden der Bonner Republik. Wenn man nur bedenkt, wie der agile Lübbe in der Hochzeit seines öffentlichen Wirkens zwischen 1970 und 1990 sämtliche ihm erreichbaren Tagungsstätten zwischen Sankelmark und Tutzing beschallte, christdemokratische Landes- und Bundesregierungen beriet, nebenher die Tagespresse bediente, jährlich ein Buch und zehn Aufsätze ausstreute, dabei Ritters nie systematisierte "Philosophie" in kleinen Münzen ausgebend, ist zu ahnen, welche "Wirkung" er seinem 1974 verstorbenen Lehrer verschaffte.

Hackes Anliegen besteht nun darin, die "Ritter-Schule" als "liberalkonservatives" Gegenlager zur "Frankfurter Schule" zu profilieren und nachzuweisen, daß von Münster aus die Bundesrepublik viel nachhaltiger intellektuell geprägt wurde als vom erneuerten Institut für Sozialforschung der Remigranten Horkheimer und Adorno. Dabei konzentriert er sich auf Lübbe und Marquard, berücksichtigt auch Robert Spaemann. Eher randständige Rechts- (Günter Rohrmoser) wie Linksausleger (Ernst Tugendhat) sowie die bekanntesten Juristen aus Ritters "Collegium Philosophicum", Ernst-Wolfgang Bockenförde und Martin Kriele, übergeht er hingegen.

Wenn ihr Antipode Habermas, denunziatorisch, wie man das von ihm gewöhnt ist, auch lange bestrebt war, Lübbe und Marquard dem "Verdacht" des "Neokonservatismus" auszusetzen, hat Hacke geringe Mühe, dies zu entkräften. Der Konservatismus dieser Liberalen knüpfte nicht an die "Jungkonservativen" der Weimarer Republik an, ging auf Distanz zu den "Rechtskonservativen" Freyer, Gehlen und dem von Lübbe "liberal rezipierten" Carl Schmitt, ließ sich nie, wie Hacke beifällig bemerkt, auf den Rechtsintellektualismus Armin Mohlers und der Criticón-Mannschaft ein und achtete peinlich darauf, Gerd-Klaus Kaltenbrunners moderaten Bemühungen um eine "Tendenzwende" nicht zu nahe zu kommen. Zudem könne man "keinerlei Affinität" zu Begriffen wie "Patriotismus" und "deutsche Nation" im Werk des Duos Lübbe/Marquard erkennen. Außerdem fehlt bei beiden, was Hacke nicht hinreichend deutlich macht, jede ernsthafte Auseinandersetzung mit der westdeutschen Zivilreligion, der "Vergangenheitsbewältigung". Denn mehr hatten sie auf diesem Feld nicht zu bieten als die Sottise vom "Sündenstolz" linksliberaler Bewältigungsprofiteure sowie die ätzende Bemerkung über den "nachgeholten Widerstand" der 68er (Marquard), dazu das provokante Lob des sozialpsychologisch nötigen "kommunikativen Beschweigens" der NS-Herrschaft während der Adenauer-Ära (Lübbe). Doch das ist Geblubber verglichen mit Mohlers Attacken oder den jüngsten messerscharfen Analysen des neomarxistisch sozialisierten Peter Furth in seinem Buch "Troja hört nicht auf zu weinen" (JF 42/06).

Was also bleibt übrig, um diesen lupenreinen Liberalismus noch mit einem konservativen Etikett versehen zu dürfen? Hacke muß einräumen, daß alles, was Lübbe und Marquard stets "konservieren" wollten, sich auf den bundesdeutschen Status quo beschränkte: "freiheitlich-demokratische Grundordnung, soziale Marktwirtschaft, Westbindung". Rechnet man einen kräftigen Schuß "Neomarxismusresistenz" hinzu, die Lübbes Engagement im Bund Freiheit der Wissenschaft befeuerte, präsentiert Hacke hier klassische "cold-war liberals", aber keine Konservativen. Damit hängt dann auch sein Vermittlungsproblem zusammen. Denn die von ihm ideengeschichtlich "rekonstruierend" erst in einen systematischen Zusammenhang gebrachte "Transzendentalbellestristik", die mit Wortungetümen ("Inkompetenzkompensationskompetenz") gespickte politische Essayistik des immerfort das Bestehende verteidigenden Duos - sie liest sich schon im Original wie eine nicht enden wollende Regierungserklärung. Hackes dröge Nacherzählung dieser Common-sense-Apologetik kann die Botschaft dann schwerlich aufpeppen.

Zum Schluß seiner bundesdeutschen Intellektuellengeschichte betont Hacke mit guten Gründen die "Annäherungen" zwischen den sich nunmehr im "Verfassungspatriotismus" einig wissenden einstigen Kontrahenten Lübbe und Habermas. Schöner ließe sich der Triumph des liberalen Juste milieu nicht illustrieren.

Jens Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, gebunden, 323 Seiten, 39,90 Euro

Foto: Hermann Lübbe: "Cold-war liberal"


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