© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/07 16. März 2007

Poetik des Widerstands
Manfred Riedels Klarstellungen zum "geheimen Deutschland" Stefan Georges und der Stauffenberg-Brüder
Martin Konitzer

Der Historiker Ernst Kantorowicz formulierte 1933 in seiner Abschiedsrede vom Frankfurter Lehrstuhl gegenüber dem NS-Regime den Begriff des "geheimen Deutschland". Kantorowicz, ehemaliger Freikorps-Kämpfer jüdischer Herkunft, Mitglied des George-Kreises, dort Mentor des Stauffenberg-Bruders Alexander, hatte diesen Begriff in seiner Biographie des Stauffer-Kaisers Friedrich II. 1928 über den George-Kreis hinaus popularisiert.

Manfred Riedel folgt Kantorowicz in der politisch-kritischen Auffassung des Terminus vom "geheimen Deutschland", indem er deutlich macht, daß Widerstand gegen die NS-Diktatur zunächst und zentral ein Kampf um Worte war. In seinem Verständnis ist der Begriff "geheimes Deutschland" wesentliches Antidot gegen die "Falschmünzerei" vom "Dritten Reich": Im Widerstand ist "geheimes Deutschland" eine verbreitete Chiffre, wenn auch mit semantischen Verschiebungen ("heimliches Deutschland", Gräfin Dönhoff). Riedel interpretiert den Ausruf Claus Stauffenbergs vor dem Erschießungskommando - kolportiert als Beschwörung des "heiligen Deutschland" - als verballhornte Rezeption des "geheimen Deutschland" durch seine Gegner. Goebbels hat Claus Stauffenberg als Gegner im Kampf um Worte erkannt, wenn er von dessen "Beredsamkeit" spricht, wie uns Riedel aus dem Tagebuch des Propaganda-Ministers wissen läßt.

Riedel nähert sich dem Nexus zwischen dem zunächst poetischen Terminus vom "geheimen Deutschland" und der politischen Tat des 20. Juli auf zweierlei Wegen: erstens einer "dichten Lektüre", wie die neuere Textwissenschaft das nennt, der literarischen Tradition Hölderlin-Nietzsche-George-Kantorowicz (letzterer betonte stets die poetischen Anteile der Geschichtsschreibung!) und zweitens einer Skizze der biographisch-genealogischen Tradition der Stauffenberg-Brüder Alexander, Berthold und Claus als Urenkel Gneisenaus.

Argumentativer Treffpunkt der Wege ist die Gneisenau/Clausewitz-Intervention beim preußischen König in den napoleonischen Kriegen. Mittels des königlichen Bonmot "Gut für Poesie" als ablehnende Randbemerkung zur Eingabe stiftet diese Episode heute nicht nur den Titel von Günter de Bruyns aktuellem Buch, sondern auch einen Anlaß für Diskussionen über die Anteile an der Urheberschaft Gneisenaus und Clausewitzens (JF 51/06).

Riedel folgt hier der traditionellen Auffassung von der primären Urheberschaft Gneisenaus - wie seinerzeit der Stauffenberg-Vertraute Rudolf Fahrner in seiner Arndt-Biographie (1937). Gneisenau legte 1811 dem König einen Aufstandsplan gegen Napoleon vor mit Elementen nicht nur des Guerilla-Krieges, sondern absehbarer Konsequenzen für die Umorganisation des Heeres entsprechend dem von Napoleon vertretenen Leistungsprinzips gegenüber dem Adelsprivileg. Auf die Ablehnung schreibt Clausewitz an seinen Vorgesetzten und Freund Gneisenau: "Der König weiß wohl nicht, daß auf Poesie die Sicherheit der Throne gegründet ist." Riedel führt lediglich Gneisenaus (1811) Brief an den König aus Fahrners Arbeit (1937) an: "Religion, Geburt, Liebe zum Regenten, zum Vaterland, zur Tugend, sind nichts anderes als Poesie. Wer nur nach kalter Berechnung handelt, wird ein starrer Egoist. Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet."

Weder für Gneisenau/Clausewitz noch für die sich im Widerstand formierenden Stauffenberg-Brüder oder den Emigranten Kantorowicz sollte aber "Poesie" in diesem patriotischen Verständnis je Politik "ersetzen". Vielmehr ergibt sich aus der poetisch-patriotischen Tradition ein produktives Spannungsverhältnis zu den Alltäglichkeiten der Politik, eine lebendige, nicht allein rationale "Ressource" (das heutige Modewort) des Gewissens. Der Stabsoffizier Claus Stauffenberg beginnt nach der Reichskristallnacht mit seinen militärischen Schülern unter Anleitung Fahrners die Lektüre Gneisenaus - insbesondere dessen "Staatsreformplan" - zur Vergegenwärtigung von Widerstandstechniken des Vorfahren, wobei Riedel das Stauffenberg-Zitat "Ja, sehen Sie, das haben wir gelernt: so hat es Der gemacht" nicht als verbürgt akzeptiert. 1942 publizierte Fahrner im Delfin-Verlag (Überlingen) der Stauffenberg-Brüder eine Gneisenau-Studie, von Claus Stauffenberg laut Riedel bald wie eine "Dienstvorschrift" gebraucht.

Das "geheime Deutschland" - so Riedels Lektürebefunde - ist zentraler Begriff für die poetisch-patriotische Ressource des Widerstands aus dem George-Kreis. Die "theoretische" Definition (1915) lautet bei dem George-Schüler und Hölderlin-Forscher von Hellingrath so, daß nicht Abstammung oder Staat den Zusammenhang eines Volkes begründen, sondern die Sprache als "Seele des Volkes". Daher können Völker nach ihren großen Sprachschöpfern benannt werden, wobei die sprachlich-poetische Tradition nicht offen sein muß, vielmehr häufiger "geheim" bleibt. "Wir nennen uns 'Volk Goethes', weil wir ihn als Höchsterreichbares unseres Stammes (...) sehen. (...) Ich nenne uns 'Volk Hölderlins', weil es zutiefst im deutschen Wesen liegt, daß sein innerster Glutkern unendlich weit unter der Schlackenkruste, die seine Oberfläche ist, nur in einem geheimen Deutschland zutage tritt; sich in Menschen äußert, die zum mindesten längst gestorben sein müssen, ehe sie gesehen werden und Widerhall finden; in Werken, die immer nur ganz Wenigen ihr Geheimnis anvertrauen, ja den meisten ganz schweigen, Nicht-Deutschen wohl nie zugänglich sind; weil dieses geheime Deutschland so gewiß ist seines inneren Wertes oder so unschuldig unbekannt mit der eigenen Bedeutung, daß es gar keine Anstrengung macht, gehört, gesehen zu werden."

Zur Verschränkung poetischer und politischer Praxis des "geheimen Deutschland" läßt Riedel abschließend den Mitverschwörer Fahrner sprechen. Dieser erinnert sich an das letzte Treffen mit Claus und Berthold Anfang Juli 1944 in Berlin. In eindrücklicher Weise überformen sich dabei die Aufrufe und Erklärungen zum bevorstehenden Attentat mit der Redigierung des Lyrik-Manuskripts des abwesenden Bruders Alexander zum Tod Georges : "Der Tod des Meisters". Fahrner spricht hier von einer für die Arbeitsweise des Kreises typische "Sympoiese".

Riedels Studie betont somit überzeugend die eigenständige politisch-poetische deutsche Tradition der Widerständler des 20. Juli - eine facettenreiche "Erinnerungsarbeit" in der Mehrdeutigkeit dieses Wortes. Lesenswert nicht allein für Historiker und Germanisten.

Manfred Riedel: Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg. Böhlau Verlag, Köln 2006, gebunden, 232 Seiten, Abbildungen, 24,90 Euro

Fotos: Des "Meisters" Anziehungskraft, Stefan George ..., ... und Claus und Berthold von Stauffenberg, Berlin 1924


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